Asylstufenplan gescheitert? Corona offenbart strukturelle Schwachstellen am Konzept der Landesregierung zur Unterbringung von Geflüchteten

Kleine Anfrage von Berivan Aymaz

Portrait Berivan Aymaz 2021

Im Zuge der Corona-Krise haben sich neben der Entwicklung völlig neuer Herausforderungen, wie etwa die Notwendigkeit der Zurverfügungstellung von Mund-Nasen-Schutz, auch bereits bestehende Problematiken verschärft, die Ausdruck längerfristiger Fehlentwicklungen in der Unterbringungsstrategie von Geflüchteten in NRW sind. Daher bedarf es einer grundlegenden Diskussion, wie eine humanitäre Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten, die den Hygiene- und Schutzansprüchen gerecht wird, hergestellt werden kann.
Konzeptlosigkeit bei Unterbringung von Geflüchteten
Denn spätestens nach den hohen Infektionszahlen in der Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) Euskirchen, der ZUE Sankt Augustin, aber eben auch in den Schlachtereien Westfleisch und Tönnies zeigt sich, dass die Unterbringung vieler Personen auf engem Raum ein Nährboden für das gefährliche Virus ist. Während das Bundesministerium für Arbeit schon seit Langem arbeitsschutzrechtliche Richtlinien zur Unterbringung von Arbeitnehmerinnen und -nehmern (SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard) veröffentlicht hat, fehlen solche Vorgaben bisher weiterhin bei der Unterbringung von Geflüchteten.
Nach Auskunft des MKFFI in der Integrationsausschusssitzung vom 10.06.2020 wurde die Belegungskapazität in den Unterkünften auf etwa 65% verringert; allerdings erst fast vier Monate nach den ersten Corona-Ausbrüchen in NRW. Erschwerend kommt hinzu, dass die Landesregierung im Zeitraum zwischen 19.03.2020 und 03.05.2020 die Zuweisungen in die Kommunen komplett ausgesetzt hatte. Eine Antwort, auf welcher Rechtsgrundlage das Vorgehen der Landesregierung basiert, blieb Flüchtlingsminister Stamp bisher schuldig (Vorl. 17/3328). In der Integrationsausschusssitzung am 20.05.2020 teilte das MKFFI mit, dass mit Stand vom 15.05.2020 sogar bei 1307 Personen, wovon 670 minderjährig sind, eine Rechtspflicht zur Zuweisung in die Kommunen bestand.
Die Landesregierung bemühte sich offenbar nicht ausreichend, zusammen mit den Kommunen eine alternative und kooperative Lösung herbeizuführen, um mit der Unterstützung von Städten und Gemeinden die Rechte der Geflüchteten auch in Corona-Zeiten zu gewährleisten.
Die Nutzung von Entzerrungskapazitäten, die zum Großteil durch Anmietungen von Jugendherbergen durch das Land bestritten werden, stellen allenfalls eine Übergangslösung dar. Doch auch nahezu sechs Monate nach Ausbruch der Pandemie fehlt der Landesregierung offenbar ein schlüssiges Unterbringungskonzept, das den Schutzbedürfnissen und Rechten der Geflüchteten gerecht wird.
Wenig Schutz und Betreuung für Geflüchtete in den Landesunterkünften
Schon vor der Coronakrise wurden im Rahmen der Einführung des Asylstufenplans begründete Vorbehalte gegen derart große Unterbringungseinrichtungen wie den ZUE vorgetragen (APr 17/493). Insbesondere die Bedürfnisse vulnerabler Personengruppen, etwa Geflüchtete mit traumatischen Erfahrungen, Menschen mit Behinderung, alleinreisende Frauen, Alleinerziehende, Familien und Kinder, laufen Gefahr, nicht identifiziert zu werden oder keine angemessene Betreuung zu erfahren. Des Weiteren erschwert die oftmals abgeschiedene Situierung der ZUE Ehrenamtlichen, Betreuungs- und Beratungsleistungen in den Unterkünften anzubieten und den Geflüchteten Arztbesuche. Zwar sollen Familien laut Erlass des MKFFI vom 14.06.2018 spätestens im vierten Monat aus den ZUE in Kommunen verteilt werden, doch immer wieder tauchen Berichte auf, in der geschildert wird, dass diese Frist nicht eingehalten werde (https://www.ev-kirche-niederpleis.de/wp-content/uploads/2020/06/Stellungnahme-der-Kirchen-zum- Weiterbetrieb-der-ZUE-in-Sankt-Augustin.pdf).
Während der Coronazeit standen sogar ganze Flüchtlingsunterkünfte unter Quarantäne, sodass Beratungs- und Betreuungsleistungen zeitweise völlig zum Erliegen kamen (vgl. Antrag „Geflüchtete brauchen Schutz vor Covid-19 – Die Landesregierung muss ihrer Fürsorgepflicht endlich gerecht werden!“ Drs. 17/9344). Zwar richtete die Landesregierung einen längst überfälligen Beratungsstab zur psychosozialen Krisenintervention in den Aufnahmeeinrichtungen des Landes ein, in dem neben dem MKFFI auch u.a. das MAGS und das LZG NRW beteiligt sind (Vorl. 17/3345). Über Erkenntnisse und Ergebnisse des Beratungsstabs wurde der zuständige Integrationsausschuss bisher nicht weiter unterrichtet.
Auch die Identifizierung und Verlegung von Angehörigen einer Covid-19-Risikogruppe und deren Familienmitglieder erfolgte schleppend (Vorl. 17/3345). Bisher hat die Landesregierung kein Konzept vorgelegt, das eine tagesaktuelle Identifikation von Angehörigen einer Risikogruppe ermöglicht. Angesichts der seit langem vorliegenden Erkenntnisse über die Ausbreitung in Gemeinschaftsunterkünften und über die gefährlichen Folgen einer Erkrankung an dem Virus für einzelne Personengruppen ist dieses Versäumnis nicht hinnehmbar. Jetzt müssen die richtigen Lehren daraus gezogen werden.
Ebenso bleibt die Landesregierung eine Antwort schuldig, inwieweit auch in den neu geschaffenen Ausweichunterkünften der Zugang zu Beratungs- und Betreuungsleistungen, wie etwa zu einer Verfahrens-Rechtsberatung und zu einer Beschwerdestelle gewährleistet ist. Der Zugang zu Rechts- und Beratungsleistungen muss insbesondere deswegen garantiert werden, da das BAMF wieder ablehnende Bescheide versendet und Abschiebungen nicht gänzlich ausgesetzt wurden.
Weiterhin keine Beschulung von Kindern in den Landesunterkünften
Kinder gehören in die Schule. Doch dies gilt offenbar nicht für die Kinder in Landesunterbringungseinrichtungen. Anstatt ihnen die Teilnahme am regulären Schulunterricht in den Kommunen zu ermöglichen, kündigte Kinderminister Stamp ein alternatives Konzept von „schulnahen Bildungsangeboten“ für Kinder in den Landesunterkünften an.
In einem Bericht vom 10.12.2019 heißt es: „Hierzu sollen 50 Stellen für Lehrkräfte im Einzelplan 05 (Ministerium für Schule und Bildung) bereitgestellt werden. Wie die schulnahen Bildungsangebote organisiert werden, wird derzeit zwischen dem Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration (MKFFI) und dem Ministerium für Schule und Bildung (MSB) abgestimmt“ (Vorl. 17/2824).
Die Antwort auf unsere Kleine Anfrage (Drs. 17/8060) ergab, dass mit Stand vom 30.12.2019 in den Landesunterkünften NRWs mehr als 1100 geflüchtete Kinder und Jugendliche auf die Beschulung warten. Damals versprach die Landesregierung, dass „ab dem Jahr 2020 in allen ZUE schulnahe Bildungsangebote etabliert und zeitnah mit mindestens einer ZUE pro Regierungsbezirk begonnen“ werde (ebd.).
Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:
1.             Was tut die Landesregierung, um in Zusammenarbeit mit den Kommunen ein tragfähiges und auf die Corona-Umstände angepasstes Unterbringungskonzept für Geflüchtete in NRW zu erarbeiten?
2.             Inwieweit plant die Landesregierung, die Schutzkonzepte in den Landesunterbringungseinrichtungen zu überarbeiten, um einen effektiven Gesundheitsschutz für Geflüchtete und Betreuungsdienstleistende zu gewährleisten?
3.             Inwieweit plant die Landesregierung, in der Coronazeit neu geschaffene Unterbringungskapazitäten sowie den neu eingerichteten Beratungsstab auch nach der Pandemie aufrechtzuerhalten?
4.             Auf welcher Rechtsgrundlage basierte der Erlass zur Aussetzung der Zuweisungen in die Kommunen?
5.             Wann werden Kinder im schulpflichtigen Alter, die in Landesunterbringungen untergebracht sind, endlich beschult?