Wibke Brems: „Nicht nur an Gedenktagen, nicht nur in Reden, nicht nur bei Demonstrationen, sondern an jedem einzelnen Tag“

Zum Antrag der Fraktionen von CDU, SPD, FDP und GRÜNEN für ein Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Portrait Wibke Brems 5-23

Wibke Brems (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der 27. Januar: An diesem Datum gedenken wir der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Auschwitz ist das Synonym für die systematische Vernichtung von Menschen, vor allem von Jüdinnen und Juden. Allein in Auschwitz wurden in nur fünf Jahren über 1 Million Menschen grausam ermordet; 200.000 Menschen pro Jahr, 550 Menschen pro Tag – das sind unvorstellbare Zahlen.

Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung, Kriegsgefangene und politische Häftlinge – sie waren Opfer der Nationalsozialisten. Sie wurden verfolgt, ausgebeutet, gefoltert und ermordet im Wissen und unter Mitwirkung von Nachbarn und Kollegen – ganz normalen Leuten.

Wenn man sich das Ausmaß dieses Verbrechens an der Menschlichkeit, dieser Gräueltaten vor Augen führt, ist der erste Impuls: Das ist unvorstellbar grausam und beschämend. – Persönlich tauchen dann auch viele Fragen auf: Das haben unsere Väter oder Großväter, unsere Mütter oder Großmütter geschehen lassen, mitgemacht, angeordnet?

Bis heute herrscht in vielen Familien Sprachlosigkeit über die eigene Rolle im Krieg und bei der Vernichtung von Millionen von Menschen. Unvorstellbare Grausamkeit, Schrecken, Sprachlosigkeit – das kann lähmen, so sehr, dass man am liebsten wegschauen möchte. Aber genau das, das Wegschauen, dürfen wir nicht zulassen. Das ist unsere Verantwortung als nachfolgende Generation.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und Dirk Wedel [FDP])

„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“

Das sagte der Auschwitzüberlebende Primo Levi. Gerade jetzt, da klar geworden ist, wie konkret Demokratiefeinde bereits Deportationspläne schmieden, bedeutet das für uns Demokratinnen und Demokraten: Wir dürfen nicht wegschauen. Wir dürfen nicht schweigen. Wir müssen Menschenhass benennen. Wir müssen jeglicher Art von Rassismus und Antisemitismus entgegentreten. Wir müssen unsere Mitmenschen und unsere Demokratie schützen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und Dirk Wedel [FDP])

  1. Januar 1996: Seitdem wird der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland begangen – 51 Jahre nach Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Ich finde es beschämend, dass es ein halbes Jahrhundert gedauert hat, bis es im Land der Täter einen offiziellen Gedenktag für die Opfer des Holocaust gab.

Auch heute, 79 Jahre nach Ende der NS-Diktatur, gibt es noch immer blinde Flecken in unserer Erinnerungskultur. Der Antisemitismus war mit dem Ende des Nationalsozialismus nicht einfach aus den deutschen Köpfen verschwunden. Wir wissen alle, dass Antisemitismus nie richtig weg war.

Und viele andere verfolgte Gruppen mussten auch nach 1945 weiterhin unter Diskriminierung leiden. Homo- und Transfeindlichkeit waren nach 1945 nicht weg. Antiziganismus war nach 1945 nicht weg. Bis heute sind Sinti und Roma täglichem, unverhohlenem, für alle sichtbaren und trotzdem unwidersprochenem Rassismus ausgesetzt. Wir brauchen eine viel breitere Auseinandersetzung mit Antiziganismus. Wir müssen Sinti und Roma besser schützen, und daran arbeiten wir als demokratische Fraktionen gemeinsam.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und Dirk Wedel [FDP])

Daher ist der diesjährige Fokus auf Sinti und Roma in der Gedenkstunde am kommenden Freitag ein wichtiges Zeichen an sie. Es ist wichtig, das Leid aller Verfolgten und Ermordeten des Nationalsozialismus zu benennen und anzuerkennen.

Ob am Stammtisch, beim Familienfest, beim Bier nach dem Fußball, in der Pause auf dem Bau oder beim Meeting mit dem wichtigen Kunden – es ist unsere Verantwortung, deutlich zu werden, Haltung zu zeigen, anstatt achselzuckend zu schweigen; nicht nur an Gedenktagen, nicht nur in Reden, nicht nur bei Demonstrationen, sondern an jedem einzelnen Tag. „Nie wieder!“ ist jetzt. – Danke schön.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)