Verena Schäffer: „Wir als Demokratinnen und Demokraten müssen alles für dieses „Nie wieder“ tun“

Zum Antrag der Fraktionen von CDU, SPD, FDP und GRÜNEN im Landtag zum 30. Jahrestag des Anschlages von Solingen

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022

Der Antrag „Gedenken an die Opfer des rechtsextremistischen Brandanschlags in Solingen – Einstehen gegen Rassismus und Diskriminierung“

Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Nacht auf den 29. Mai 1993 verlor die Familie Genç fünf Familienmitglieder. Die Erinnerung an die fünf getöteten Frauen und Mädchen der Familie Genç wachzuhalten, ist ein ganz zentraler Teil der Erinnerungskultur unseres Landes. Wir werden Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç nicht vergessen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute nennen wir uns ganz selbstverständlich Einwanderungsgesellschaft. Das war ja nicht immer so. Als in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren Menschen als Arbeitskräfte angeworben wurden, nannte man sie Gastarbeiter. Man erwartete, dass sie irgendwann in ihr Herkunftsland zurückkehren würden.

Auch Mevlüde und Durmuş Genç wanderten in den 70er-Jahren nach Deutschland ein. Und sie blieben mit ihrer Familie. – Herr Genç, liebe Familie Genç, danke, dass Sie heute da sind.

(Beifall von allen Fraktionen)

Anfang der 90er-Jahre, kurz nach der Wiedervereinigung, wurde rassistisch aufgeheizt über die Aufnahme von Geflüchteten diskutiert. Trotz der Pogrome und Anschläge von Mölln, Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda wurde am 26. Mai 1993 im Deutschen Bundestag der sogenannte Asylkompromiss und damit eine erhebliche Beschneidung des Asylrechts beschlossen.

Für Neonazis und Rechtsextreme muss das eine Bestätigung für ihre menschenverachtende Hetze gewesen sein. Nur drei Tage später brannte in Solingen das Haus der Familie Genç.

Ich finde, das sollte uns sehr nachdenklich machen – nachdenklich darüber, wie wir als Politikerinnen und Politiker diskutieren, wie wir kommunizieren und was wir sagen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Am kommenden Montag jährt sich dieses furchtbare Ereignis zum 30. Mal. Der Brandanschlag von Solingen hat tiefe Narben in der Geschichte unseres Landes hinterlassen. Viele insbesondere junge Menschen mit Migrationsgeschichte in Nordrhein-Westfalen hat dieser rassistische Anschlag sehr geprägt. Wenn man mit ihnen spricht, kann man erahnen, welche Angst und Wut damals in der Luft lag. Diese Verunsicherung begleitet eine ganze Generation bis heute.

Neben der Erinnerung an die ermordeten Mitglieder der Familie Genç ist der Jahrestag auch ein wichtiger Anlass, über Kontinuitäten rechtsextremer Gewalt in Deutschland zu sprechen. Denn Solingen ist kein Einzelfall. Rassistische Gewalt in der Bundesrepublik begann nicht erst mit den 1990er-Jahren. Auch heute geht die größte Gefahr für unsere demokratische Gesellschaft vom Rechtsextremismus aus.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Um Rechtsextremismus zu bekämpfen, stärken wir die Beratungsstellen gegen Rechtsextremismus. Wir stärken die Präventionsarbeit. Wir reagieren auf neue Phänomene wie etwa die Verbreitung von Verschwörungserzählungen. Wir gehen gegen rechtsextreme Akteure vor, indem wir den Ermittlungsdruck gegen rechtsextreme Straftaten hoch halten.

Es ist eine gemeinsame Verantwortung und Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten, gegen Rechtsextremismus konsequent vorzugehen.

Mir ist aber auch wichtig, zu sagen, dass wir über Rechtsextremismus nicht losgelöst von Rassismus und menschenverachtenden Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft diskutieren können. Deshalb ist es wichtig, neben der Bekämpfung des Rechtsextremismus für wirksame Antidiskriminierungsstrukturen zu sorgen, diejenigen zu stärken, die von Rassismus und Diskriminierung in unserer Gesellschaft betroffen sind, ein eigenes Landesgesetz zu schaffen, um die Schutzlücken des AGG zu schließen, und eine Landesantidiskriminierungsstelle zu schaffen. Denn jeder Mensch soll ohne Angst vor rassistischer Gewalt oder Diskriminierung in Nordrhein-Westfalen leben können.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Bereits unmittelbar nach dem Anschlag rief Mevlüde Genç zur Versöhnung auf, und sie tat alles dafür, die Erinnerung wach zu halten. Mir ist bei einer der vielen Veranstaltungen, die ich miterleben durfte, auf der Mevlüde Genç gesprochen hat, in Erinnerung geblieben, wie Mevlüde Genç vor einigen Jahren von ihrer Enkelin Saime berichtete. Saime habe sich so sehr gefreut, endlich bald den Kindergarten besuchen zu dürfen. Dazu ist es nicht gekommen, weil die kleine Saime im Alter von gerade einmal vier Jahren ermordet wurde.

Die Geschichte von Saime ist die Geschichte eines nicht gelebten Lebens. Alle fünf Frauen und Mädchen waren sehr jung und hatten ihr ganzes Leben vor sich. Der Gedanke, was es bedeutet, was sie alles nicht erleben konnten, macht mich tief traurig, und den Schmerz der Angehörigen können wir nur erahnen.

Nie wieder sollen Eltern und Großeltern ihre Kinder durch einen rechtsextremen Anschlag verlieren, und wir als Demokratinnen und Demokraten müssen alles für dieses „Nie wieder“ tun.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD, der FDP, Enxhi Seli-Zacharias [AfD] und der Regierungsbank)

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