Verena Schäffer: „Es darf keinen Schlussstrich geben“

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022

Der Antrag

Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nur wenige hundert Schritte vom Landtag entfernt steht im Alten Hafen die kleine Statue eines Mädchens mit einem Ball in der Hand. Das Mädchen ist Ida Ehra Meinhardt. 1940 wurde Ehra nach Polen deportiert, glücklicherweise überlebte sie. Wir können nur erahnen, mit welchen körperlichen und seelischen Folgen.

Die Ehra-Statue erinnert an die hunderttausenden Opfer des Völkermords an den Sinti und Roma. Sie und die anderen Opfer des Nationalsozialismus werden wir niemals vergessen.

(Beifall von der den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Auschwitz ist das Synonym für die systematische Vernichtung von Jüdinnen und Juden als die größte Opfergruppe, aber auch von Sinti und Roma, von Homosexuellen, von Menschen mit Behinderung, von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, von politischen Gegnerinnen und Gegnern. Die systematische Vernichtung folgte auf die systematische Ausgrenzung und Entrechtung durch die Nationalsozialisten.

Der Boykott jüdischer Geschäfte, die Euthanasie-Programme, die Rassengesetze, die Verschärfung des § 175, die Reichspogromnacht, die Angriffskriege auf souveräne Staaten und ihre Bevölkerung, der Auschwitz-Erlass zur Deportation der Roma und Sinti, die Wannseekonferenz – all das konnte geschehen, weil es Menschen gab, die die Nationalsozialisten unterstützt und sich angeschlossen haben, Menschen, die ihre Nachbarn verraten haben, Menschen, die Erlasse unterzeichnet, Schießbefehle erteilt und Hinrichtungen angeordnet haben, und Menschen, die mindestes weggewesen haben.

Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi hat gesagt:

„Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen, wir müssen alles dafür tun, dass es nicht wieder geschieht. Das ist unser Auftrag, das ist unsere Verantwortung, und zwar nicht nur in Reden an Gedenktagen, sondern im Alltag, und zwar jeden Tag.

(Beifall von der den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Mit der Befreiung von Auschwitz und dem Kriegsende in Deutschland und in Europa ist die menschenverachtende Ideologie nicht verschwunden, weder aus den Köpfen noch aus allen Gesetzen und Amtsstuben. Auch heute machen Jüdinnen und Juden in unserer Gesellschaft jeden Tag Antisemitismuserfahrungen, werden Menschen mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert, erleben Diskriminierung, weil sie der Minderheit der Sinti und Roma angehören, werden beschimpft und bespuckt aufgrund ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität.

Als Demokratinnen und Demokraten müssen wir uns dieser menschenfeindlichen Hetze und Ausgrenzung immer entgegenstellen.

Wir haben hier im Land gemeinsam als Demokratinnen und Demokraten die Stelle einer Antisemitismusbeauftragten eingerichtet, und wir wollen ihre Arbeit weiter stärken. Da die Arbeit der Antidiskriminierungsstellen und der Opferberatungsstellen so wichtig ist, werden wir eine Landesantidiskriminierungsstelle und ein Landesantidiskriminierungsgesetz schaffen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Deshalb ist es auch so wichtig, dass Politikerinnen und Politiker darauf achten, wie sie sprechen, dass durch ihre Worte Gruppen nicht pauschal herabgesetzt werden, egal, in welchem Land die Eltern geboren wurden.

Wir als demokratische Gesellschaft müssen uns am Umgang mit unseren Minderheiten messen lassen. Jeder muss hier frei und ohne Angst vor Diskriminierung und Gewalt leben können.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Vereinzelt Beifall von der SPD und der FDP)

Die aktuelle Ausstellung der Zweitzeugen draußen im Foyer macht deutlich, weil die Zeitzeugen immer weniger werden, brauchen junge Menschen neue Zugänge zur Erinnerung. Wir müssen die historisch-politische Bildung deshalb mehr denn je stärken. Die Erinnerungsorte in Nordrhein-Westfalen leisten einen wichtigen Beitrag, um das Wissen über den Nationalsozialismus und auch die Forschung voranzutreiben. Es gilt dabei, die Erinnerungskultur weiterzuentwickeln, insbesondere in einer pluraler werdenden Gesellschaft. Es gilt auch, alle Opfergruppen in den Blick zu nehmen.

Dem Gedenken an die Verfolgung von Homosexuellen wurde lange Zeit kein Platz in der Erinnerungskultur eingeräumt. Der § 175 StGB galt lange unverändert fort. Die Schicksale der Kriegsgefangenen und der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sind noch nicht im kollektiven Gedächtnis präsent, und die Neukonstruktion des Erinnerungsortes Stalag 326 wird das sicherlich und hoffentlich ändern. Die Ehra-Statue im Alten Hafen von Düsseldorf wurde übrigens erst 1997 auf Betreiben des Landesverbandes deutscher Sinti und Roma in Nordrhein-Westfalen aufgestellt. Das zeigt uns, dass die Aufarbeitung und die Auseinandersetzung mit der Geschichte auch am 78. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung noch lange nicht abgeschlossen sind. Es darf keinen Schlussstrich geben.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist unsere Verantwortung als Demokratinnen und Demokraten, die Erinnerung wachzuhalten, die Geschichte eben nicht ruhen zu lassen sowie Hass und Diskriminierung heute und an jedem Tag entgegenzutreten. – Danke schön.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)