Jule Wenzel: „Wohnungslosigkeit ist kein individuelles Versagen“

Zum Antrag der Fraktionen von CDU und Grünen im Landtag zu "Housing First"

Portrait Jule Wenzel (c) M Laghanke

Der Antrag „Wohnungslosigkeit überwinden – Housing First in Nordrhein-Westfalen auf dem Weg zum 2030-Ziel“

Jule Wenzel (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist für fast 80.000 Menschen in unserem Bundesland eine Realität – eine Realität, die beginnt, sobald man zwei Mietzahlungen versäumt hat und dann die eigene Wohnung verliert.

Was folgt, ist oft eine Odyssee: von der Couch von Freunden oder Verwandten zu Nächten in der S-Bahn bis zum Leben auf der Straße.

Stellen Sie sich vor, Sie wüssten nicht, wo Sie heute Nacht sicher schlafen können, wo und wann eine nächste Mahlzeit verfügbar ist und ob Sie in den nächsten Tagen die Möglichkeit haben, zu duschen. Ich bin mir sicher: Nur wenige von uns können die emotionale Belastung dieser Lebensrealität nachempfinden.

Wohnungs- und obdachlose Menschen leben mit uns zusammen und sind doch oft an den Rand gedrängt. Das sollte uns jeden Tag bewusst sein, nicht nur, wenn es klirrend kalt ist und wir uns beim Vorbeigehen fragen, ob bei Minustemperaturen Schlafsäcke oder die Nummern von Kältebussen aus Social-Media-Posts ausreichen.

In Nordrhein-Westfalen ist das Grundrecht auf Wohnen bei diesen fast 80.000 Menschen noch nicht erfüllt. Doch Wohnen ist nicht nur ein Grundbedürfnis; es ist ein Menschenrecht. Wohnen ist essenziell für gesellschaftliche und politische Teilhabe. Wohnungslosigkeit ist kein individuelles Versagen.

Es ist unser aller Aufgabe, Wohnungslosigkeit zu verhindern und aufzufangen.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Als Grüne finden wir uns mit Wohnungslosigkeit nicht ab. Würde und Teilhabe in unserer Gesellschaft für alle Menschen – das muss das Minimum sein.

Wir haben uns deshalb gemeinsam mit der CDU in Nordrhein-Westfalen zum europäischen Ziel, Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden, bekannt. Das ist ein sehr anspruchsvolles Ziel, für das man erstens viel Zwangsoptimismus und zweitens viele verschiedene Instrumente braucht, um die Betroffenen in ihren unterschiedlichen Hilfsbedarfen angemessen zu unterstützen.

Neben den vielen erfolgreichen Vermittlungen durch „Endlich ein ZUHAUSE“ wollen wir unsere Anstrengungen nun fortsetzen. Ein Baustein dafür ist „Housing First“. Der Ansatz ist fast selbsterklärend: Menschen, die auf der Straße leben, brauchen erst einmal eine Wohnung, um sich dort in Ruhe überhaupt um die anderen Problemlagen kümmern zu können.

Dabei erhalten sie einen eigenen unbefristeten Mietvertrag und haben Anspruch auf Hilfsangebote, und zwar auf die individuelle Hilfe, die sie brauchen und wollen, und auch, wann sie sie brauchen und wollen. Diese Selbstbestimmung führt zu Vertrauen und hohen Erfolgsquoten. Gerade deshalb ist „Housing First“ ein besonders geeigneter Ansatz für wohnungs- und obdachlose Menschen mit mehrfachen Problemlagen.

In vielen Städten in NRW funktioniert „Housing First“ bereits. Viele kleine und große Leuchttürme berichten von ihren Erfolgsgeschichten – von Menschen, die nach 22 Jahren auf der Straße endlich wieder in Selbstbestimmung und Sicherheit leben.

Diese Projekte und Initiativen gibt es. Aber es gibt ein überregionales Austauschdefizit. Wir müssen die Expertise in diesem Land bündeln. Gemeinsam wollen wir den „Housing First“-Ansatz landesweit umsetzen.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Dafür fordern wir in unserem Antrag einen landesweiten Austausch relevanter Akteure im Bereich der Wohnungslosenhilfe – auch darüber, wie eine wirksame Anschubfinanzierung aussehen kann, die die bestehenden Angebote der Landschaftsverbände ergänzt.

Wir wollen mit dem Antrag außerdem bei den Landschaftsverbänden dafür werben, dass Fachstunden und Hilfeleistungen flexibel und individuell abgerechnet werden können.

Das bestehende Curriculum zur Sozialen Arbeit ist eine gute Grundlage, die Interessierten verstärkt zugänglich gemacht werden sollte.

Ich möchte abschließend noch auf einen Aspekt eingehen, der auch in den Veranstaltungen, die wir dazu durchgeführt haben, immer wieder Thema war. Ich werde oft gefragt: Wie soll „Housing First“ ohne Housing funktionieren? – Die Antwort umfasst mehrere Aspekte.

Wir müssen als Land die erfolgreichen Wohnungsbauprojekte weiterführen. Vor allen Dingen müssen wir Kooperationen mit öffentlichen Wohnungsgebern und privaten Vermieter*innen ausbauen. Das lohnt sich auch für Kommunen, die sonst viel Geld in die ordnungsrechtliche Unterbringung investieren müssen, statt weiteren Wohnraum zu schaffen.

Daher fordern wir, auch die Verbände der Wohnungswirtschaft einzubeziehen, damit wir landesweit von Kooperationen profitieren können, wie sie in vielen Städten bereits erfolgreich umgesetzt wurden.

Es geht nicht nur um Wohnraum. Es geht um Menschenwürde, Teilhabe und das Zusammenleben in unserem Bundesland. „Housing First“ ist ein Dach über dem Kopf, Selbstbestimmung, Sicherheit und Befähigung. Lassen Sie uns gemeinsam sicherstellen, dass das Recht auf Wohnen, das Recht auf ein Zuhause für jeden Einzelnen in unserem Land Wirklichkeit wird und möglichst viele Menschen in NRW von diesem Ansatz profitieren können.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

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