Wohnungslosigkeit überwinden – Housing First in Nordrhein-Westfalen auf dem Weg zum 2030-Ziel

Antrag der Fraktionen von CDU und Grünen im Landtag

Portrait Jule Wenzel (c) M Laghanke

I. Ausgangslage

Wohnen ist ein Menschenrecht und die Grundvoraussetzung für gesellschaftliche und politi­sche Teilhabe. Wohnungslosigkeit ist eine extrem prekäre Form von Armut, deren Überwin­dung für uns als schwarz-grüne Koalition von hoher Priorität ist. Im Koalitionsvertrag hat die Landesregierung das Ziel, bis 2030 Wohnungslosigkeit zu überwinden, fest verankert. In Nord­rhein-Westfalen leben rund 5.300 Menschen auf der Straße (GISS Studie im Auftrag des MAGS aus 2021). Die Landesregierung in NRW setzt sich aktiv für Menschen in Obdach- und Wohnungslosigkeit ein und erhöhte die finanziellen Mittel für die erfolgreiche Landesinitiative „Endlich ein Zuhause“ erst kürzlich.

Trotzdem wird Wohnungs- und Obdachlosigkeit weiterhin maßgeblich durch zunehmende Ar­mut sowie dem Mangel an bezahlbaren Wohnraum, insbesondere in Ballungsgebieten begünstigt. Die Steigerung der Mietpreise in zahlreichen Kommunen mit einem angespannten Wohnungsmarkt, sowie das geringe Angebot an preiswertem Wohnraum wird bundesweit durch Baukostensteigerung und fehlender Neubauaktivitäten verschärft. Das Land Nordrhein-Westfalen weitete daher das Förderprogramm zum Ankauf von Belegungsrechten auf 67 Kommunen aus, um mietpreisgebundenen Wohnraum zu sichern.

Wohnungs- und Obdachlosigkeit manifestieren sich aber nicht als isolierte Randphänomene und dürfen auch nicht ausschließlich im wohnungspolitischen Kontext betrachtet werden, son­dern müssen vielmehr als Querschnittsthema angesehen werden: Für Betroffene entstehen Härten in Gesundheitsversorgung, Mobilität, Ernährung oder dem Arbeitsmarktzugang. Um dem ambitionierte Ziel der Bekämpfung von Wohnungslosigkeit bis 2030 gerecht zu werden, bedarf es umfassender Anstrengung auf Bundes-, Landes-, und der kommunalen Ebene. Neben dem Landesprogramm „Endlich ein Zuhause“ und bestehenden Maßnahmen der Woh-nungslosenhilfe ist seit einigen Jahren der „Housing-First“-Ansatz in Nordrhein-Westfalen er­probt und von Vielen als Paradigmenwechsel für Teile der Wohnungs- und Obdachlosenhilfe angesehen.

Mit der Landesinitiative „Endlich ein Zuhause“ ergreift die Landesregierung bereits konkrete Maßnahmen, um die Angebote der Wohnungsnotfallhilfe weiterzuentwickeln. Mit den „Kümmerer“-Projekten ist Nordrhein-Westfalen bundesweit beispielgebend. Die „Kümmerer“ vermitteln erfolgreich Menschen in Wohnungen und beraten zur Verhinderung von Wohnungs­verlust. „Kümmerer“ bilden eine Brücke zwischen der Wohnungswirtschaft und den Betroffe­nen und unterstützen bei Problemen im Mietverhältnis. Erst durch die Etablierung der „Kümmerer“ kam es landesweit zu einer organisierten Zusammenarbeit zwischen den Wohnungs-notfallhilfen und der Wohnungswirtschaft. Seit 2019 wurden rund 9.500 wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen in eine eigene Wohnung vermittelt – darunter rund 474 Menschen, die zuvor ohne Obdach auf der Straße gelebt haben. Gleichzeitig konnten rund 7.000 Menschen vor Wohnungslosigkeit bewahrt werden. Hauptzielgruppe der „Kümmerer“ sind „Wohnungslose“, die durch die Kommunen untergebracht sind, die jedoch eine eigene Wohnung mit Mietvertrag brauchen.

Housing First stellt einen Grundansatz dar, der sich auf die möglichst zügige Integration von Wohnungs- oder Obdachlosen mit komplexen Problemlagen in abgeschlossene, stabile und dauerhafte Individualwohnräume mit wohnbegleitenden Hilfsmaßnahmen konzentriert. Das Wohnen in einem normalen Mietverhältnis ist bei diesem Ansatz der Ausgangspunkt und nicht das endgültige Ziel. „Housing First“ steht für ein Hilfeangebot, bei dem Betroffenen mit multip­len Wohnungsvermittlungshindernissen ohne Vorbedingungen an Therapieteilnahme oder Abstinenz normaler Wohnraum in einem dauerhaften und sicheren Mietverhältnis vermittelt wird.

Housing First schafft ein Maß an Stabilität und Sicherheit, sowie Vertrauen. Verschiedene Evaluierungen zeigen bei Rückbezug auf den Ansatz positive Auswirkungen auf die soziale Inklusion sowie auf Gesundheit und Wohlbefinden (ehemals) wohnungs- oder obdachloser Menschen auf. Erfolge werden insbesondere bei Personen sichtbar, die in der bisherigen Wohnungslosenhilfe als „Drehtür-Klientinnen und -Klienten“ klassifiziert wurden, da die Verknüp­fung von Sanktionsmöglichkeiten und Mietverhältnis dazu führten, dass sie sich vom Hilfesys­tem abwenden. Housing First stellt eine sinnvolle Ergänzung zu bestehenden Angeboten dar.

Die Verbreitung des Ansatzes in der landesweiten Hilfelandschaft ist in verschiedenen Städten unterschiedlich vorangeschritten, aus den Ursprüngen des Housing-First-Fonds ergaben sich beständige Strukturen in Städten mit ehemaligen Modellprojekten. Gleichzeitig wird im Aus­tausch mit weiteren Kommunen deutlich, dass Unsicherheit sowohl bezüglich des gesamten Ansatzes als auch seiner Finanzierungmöglichkeiten bestehen. Unabhängig von strukturellen Wohnungsmangel ist es von Bedeutung den landesweiten Austausch relevanter Akteure zu erleichtern, um diese Unsicherheiten einzudämmen.

Ein überregionaler Austausch relevanter Akteure im Bereich der Hilfsangebote bestehend aus Kommunen, Landschaftsverbänden, Sozialverbänden, Wohlfahrtsverbänden, Vertretung von wohnungslosen Menschen, Projektträgern des Housing-First Ansatzes und der Kommunalen Wohnungsgesellschaften kann dazu beitragen, bisherige Barrieren in der Umsetzung des An­satzes abzubauen. Potentiale auf dem Wohnungsmarkt können sowohl durch Kooperations­vereinbarungen beispielsweise mit öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften, aber auch durch die vermehrte Nutzung von Wohnungsbestand in Privateigentum, Konzeptvergaben und zu­sätzlicher Bereitstellung von Informationen, Öffentlichkeitsarbeit und Best-Practice Beispielen erschlossen werden.

Um den Gesetzauftrag gemäß §§ 67 ff. des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII) effektiv umzusetzen und Prinzipientreue mit der bedarfsorientierten Hilfestellung des Housing First Ansatzes zu ermöglichen, besteht Bedarf für eine Flexibilisierung der Finanzierungsmo­dalitäten der wohnbegleitenden Hilfen. Die Landesregierung ist für die Begleitung der Ver­handlungen zum Landesrahmenvertrag und die Unterstützung der Träger bei der flexiblen Ab­rechnung von Leistungen gemäß den §§ 67 ff. SGB XII verantwortlich.

Housing First sollte in ein kommunales Gesamtsystem zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit und Gewährleistung der Rechtsansprüche nach §§ 67 ff. SGB XII integriert werden. Bund, Länder und Kommunen sollten den Housing-First Ansatz konzeptionell, finan­ziell und strukturell unterstützen. Dies erfordert eine zweigleisige Strategie: Bereitstellung von Wohnraum und Finanzierung sozialer Betreuung, um Housing First langfristig als effektiven Baustein in der Wohnungslosenhilfe in NRW zu etablieren.

In Hinblick auf die Bereitstellung von Wohnraum ist zu berücksichtigen, dass angesichts der insgesamt sehr angespannten Situation gerade im Bereich des sozialen Wohnungsbaus Un­gleichbehandlungen verschiedener Personengruppen, die Wohnraum suchen bzw. Angst vor Wohnungsverlust haben, vermieden werden müssen. Da es bei den Housing-First Angeboten immer nur um kleine Fallzahlen geht, steht dies einer aktiven Unterstützung nicht entgegen. Für eine erfolgreiche Umsetzung von Housing First bedarf es darüber hinaus der Unterstüt­zung von Wohnungsunternehmen und privater Vermieterinnen und Vermieter. Diese gilt es zu anzuwerben und zu motivieren.

Die Erfahrungen aus den bisherigen Projekten haben gezeigt, dass die Finanzierung der so­zialen Betreuung zur Etablierung entsprechender Projekte für die Kommunen häufig eine Hürde darstellt. Housing-First Angebote können sich aber für die Kommunen langfristig – auch mit Blick auf die Kosten der sozialen Begleitung – wirtschaftlich selbst tragen, weil die Wohn­raumfinanzierung über die Regelfinanzierungen erfolgt und für die Kommunen damit erhebli­che Kosten im Bereich der ordnungsrechtlichen Unterbringung wohnungsloser Menschen ein­gespart werden können. Zudem können bei einer erfolgreichen nachhaltigen Integration in feste Wohnverhältnisse erhebliche Kosten etwa im Bereich Ordnungs- und Rettungsdienste entfallen. Zur landesweiten Verbreitung der Angebote wäre es daher wünschenswert, wenn sich Land, Kommunen und andere mögliche Finanzierungspartner auf ein Konzept zur Ermög­lichung von Anschubfinanzierung und landesweiter Koordination verständigen könnten.

Housing First kann dann Teil einer umfassenden Strategie zur Überwindung von Wohnungs­losigkeit und ein Schlüssel zur Erreichung des 2030er-Ziels, neben verstärkten Präventions-maßnahmen sein.

II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest,

  • dass es großer Anstrengung und Unterstützung der Struktur der Hilfelandschaft bedarf, um dem ambitionierten Ziel der Bekämpfung von Wohnungslosigkeit bis 2030 gerecht zu werden und um Betroffenen ein dauerhaft angelegtes Wohnverhältnis zu eröffnen, wodurch das Grundrecht auf Wohnen realisiert wird.
  • die Landesinitiative „Endlich ein Zuhause“ verzeichnet große Erfolge. Die im Juli ange­setzte Aufstockung der Mittel um 1,66 Millionen durch das Ministerium für Arbeit, Ge­sundheit und Soziales ist zu begrüßen. Insbesondere der Baustein der sogenannten „Kümmerer“-Projekte ist dabei ein bedeutsamer Schritt in der Weiterentwicklung der kommunalen Wohnungslosenhilfe.
  • Housing First stellt für eine besondere Zielgruppe eine sinnvolle Ergänzung zu den be­stehenden Angeboten der Wohnungslosenhilfe dar. Der Ansatz vermittelt wohnungs-und obdachlose Menschen mit komplexen Problemlagen ohne Vorbedingungen in nor­malen Wohnraum und ein dauerhaftes und sicheres Mietverhältnis mit wohnbegleitender Hilfe.
  • landesweit besteht eine wachsende Struktur aus Trägern, Initiativen und Projekten, die diesen Ansatz anwenden. Gleichermaßen gibt es noch Hürden in der landesweiten Um­setzung, die es zu minimieren gilt. Dabei sollte ein besonderer Fokus auf der Minimie­rung von Hemmnissen an der Schnittstelle von Wohnungswirtschaft und Sozialarbeit lie­gen.

Der Landtag beauftragt die Landesregierung aus vorhandenen Mitteln,

  • einen landesweiten Austausch relevanter Akteure im Bereich der Wohnungslosenhilfe, bestehend aus Kommunen, Landschaftsverbänden, Sozialverbänden, Wohlfahrtsver­bänden, Vertretung von wohnungs- und obdachlosen Menschen, Projektträgern des Housing-First Ansatzes und der Kommunalen Wohnungsgesellschaften zu unterstützen,
  • unter Beteiligung von Trägern erfolgreicher Housing-First Projekte und mit wissenschaft­licher Begleitung ein Muster-Umsetzungskonzept für weitere Projektstandorte zu entwi­ckeln. Bei der Gewinnung neuer Träger und der Implementierung neuer Projektstandorte nach diesem Konzept soll auf die Expertise der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrts­pflege zurückgegriffen werden, die dabei vom Land gezielt unterstützt werden sollen.
  • den Dialog zwischen den Landschaftsverbänden insbesondere bei der Ausgestaltung der Landesrahmenvertragsverhandlungen zu begleiten, um Träger bei dem Wunsch zu unterstützen, Beratungsleistungen flexibler über die Leistungen der §§ 67 ff. SGB XII abzurechnen,
  • mit den kommunalen Akteuren, der freien Wohlfahrtspflege und möglichen anderen Fi­nanzgebern ein Konzept für Anschubfinanzierungen für eine Ausweitung des Konzept­ansatzes auf weitere Kommunen in Nordrhein-Westfalen zu erarbeiten,
  • die Verbände der Wohnungswirtschaft einzubeziehen, um die Potenziale besser zu nut­zen und private und gewerbliche Vermieterinnen und Vermieter zur Bereitstellung von Wohnraum zu motivieren,
  • Fort- und Weiterbildungsangeboten für eine prinzipientreue Anwendung des Housing-First-Ansatzes zu unterstützen und eine verbesserte Zugänglichkeit zum bereits entwi­ckelten Curriculum im Studium der Sozialen Arbeit zu ermöglichen,
  • Diskriminierung und Stigmatisierung gegenüber wohnungs- und obdachlosen Menschen durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit zu bekämpfen, um nicht nur einen gesellschaftlich angemessenen Umgang zu fördern, sondern auch Hemmungen von Vermieterinnen und Vermietern abzubauen, die Bereitschaft zeigen Wohnraum für Housing-First Projekte bereitzustellen,
  • sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, Maßnahmen im Bereich der Prävention von Wohnungsverlust zu verbessern und einen Fokus auf die Eindämmung von Mietverhält-nisabbrüchen zu legen. Dazu gehört insbesondere die Überprüfung von datenschutz-rechtlichen Vorgaben, um eine frühzeitige Beratung im Falle von Mietschulden und Miet­konflikten für die Betroffenen zu ermöglichen.