Berivan Aymaz: „Wir stehen heute, aber auch in Zukunft an eurer Seite“

Antrag der Fraktionen von CDU, SPD, FDP und GRÜNEN zur Erdbebenkatastrophe in Syrien und der Türkei

Portrait Berivan Aymaz 2021

Berivan Aymaz (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Gäste auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Als mich an jenem 6. Februar früh am Morgen die Nachricht von den Erdbeben erreichte, konnte auch ich das Ausmaß dieser verheerenden Katastrophe noch nicht erahnen. Was dann aber sehr schnell folgte, waren die Sorge um Familienangehörige und Freunde und quälende Stunden der Ungewissheit.

Die Tochter, der Schwiegersohn und die drei Enkelkinder meines Cousins lagen über 30 Stunden lang in eisiger Kälte unter den Trümmern eines fünfstöckigen Hauses. Dann folgten die Erleichterung über ihre Rettung und später die erschütternde Nachricht: Das jüngste Kind überlebte es nicht. Sie wurde nur vier Jahre alt. Vater, Mutter und die beiden anderen Kinder haben bis heute mit den schweren Folgen der Verletzungen zu kämpfen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist eines von unzähligen Schicksalen. Ganze Familien wurden ausgelöscht, ganze Stadtteile existieren nicht mehr. Nach offiziellen Meldungen haben über 50.000 Menschen ihr Leben verloren. Die Weltgesundheitsorganisation geht von weit, weit höheren Zahlen aus. Über 29 Millionen Menschen sind von den Auswirkungen des Erdbebens direkt betroffen, und zerstört ist ein ganzer Landstrich, vergleichbar mit der Fläche von Köln bis Sachsen-Anhalt.

Für die Überlebenden, denen oft allein ihr Leben blieb und die vor Ort nur notdürftig versorgt werden können, wächst nun die Gefahr von Seuchen und Infektionen. Viele nehmen jetzt erst den Verlust ihrer Liebsten und die Zerstörung ihrer Existenz wahr. Traumata treten nun Schritt für Schritt zutage.

In Nordsyrien ist die Situation ganz besonders dramatisch, weil das Erdbeben dort die bereits von dem langen Bürgerkrieg gebeutelte Bevölkerung noch einmal hart getroffen hat. Die internationale Hilfe kommt nur schleppend voran, Hilfstransporte werden zurückgehalten, und der Zugang zu den Erdbebengebieten wird aus politischen Gründen bewusst von den Machthabern, von allen Machthabern vor Ort erschwert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser schwierigen Zeit haben die überwältigende Anteilnahme und die Hilfsbereitschaft in Nordrhein-Westfalen den Betroffenen und den Angehörigen, die in Trauer sind, großen Trost gespendet. Nachbarn, Arbeitskolleginnen oder auch Menschen, die sich vorher nicht kannten, sind sich nähergekommen. Der junge Student, der plötzlich mit Blumen vor der Haustür seiner kurdischen Nachbarin steht, die seine Großmutter sein könnte, oder der Umschlag im Briefkasten mit 50 Euro und der kurzen Nachricht: „Für die Erdbebenopfer; ich denke an Sie“ sind zwei Beispiele für die berührenden Geschichten von vielen Menschen in Nordrhein-Westfalen, denen ich in den letzten Wochen begegnet bin.

Die enorme Spendenbereitschaft ist beeindruckend. Beeindruckend sind auch die vielen helfenden Hände für Kleidersammlungen und das Sammeln von Nahrungsmitteln, Medikamenten, Decken oder Zelten. Auf diese Menschlichkeit und auf unsere lebendige Zivilgesellschaft können wir stolz sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Sie haben wieder einmal gezeigt, dass sie in der Stunde der Not sofort zur Stelle sind. Ebenso haben wir erleben können, wie groß die Wirkungskraft der migrantischen und transnationalen Zivilgesellschaft ist. Mit ihrem Know-how und mit ihren Zugängen in die Community und in die Region haben sie, die alevitische Gemeinde, die kurdische Gemeinde und die türkische Gemeinde sowie die Initiativen von Menschen syrischer Herkunft, eine unfassbar wertvolle Unterstützung geleistet. Das verdient unsere vollste Wertschätzung.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Lassen Sie mich an dieser Stelle all jenen Hilfs- und Rettungskräften gegenüber meinen allergrößten Respekt ausdrücken, die aus Nordrhein-Westfalen schnell vor Ort waren und in den Trümmerfeldern ihr eigenes Wohlergehen riskierten, um Leben zu retten. Ihnen möchte ich aus vollstem Herzen Danke sagen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Ihre selbstlose Hilfe hat Menschenleben gerettet. Damit haben sie zugleich einen unermesslichen Beitrag zur Völkerverständigung geleistet. Ich bin mir ganz sicher: Ihren Einsatz in diesen schweren Zeiten werden auch die Menschen vor Ort niemals vergessen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist gut, dass die Bundesregierung wichtige Visaerleichterungen umgesetzt hat, damit Angehörige aus der Erdbebenregion vorübergehend nach Deutschland geholt werden können. Es war auch gut und richtig, dass die Ministerin Paul die kommunalen Ausländerbehörden in NRW angewiesen hat, die notwendigen Unterlagen besonders zügig zu bearbeiten.

Viele Menschen, die für die Opfer der Katastrophe da sein, ihnen ein warmes Zuhause und familiäre Geborgenheit bieten wollen, sind inzwischen teilweise aber verzweifelt, weil die auf der Bundesebene eingeführten Visaerleichterungen auf Familienmitglieder ersten und zweiten Grades beschränkt sind. Ich finde, eine humanitäre Hilfe darf nicht vom Verwandtschaftsgrad abhängig gemacht werden.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Es kann nicht sein, dass eine Tante ihren Neffen, der seine Eltern und Geschwister verloren und kein Dach mehr über dem Kopf hat, nicht schnell und unbürokratisch zu sich holen darf. Bitter bleibt gerade vor dem Hintergrund der besonderen humanitären Katastrophe in Nordsyrien, dass es Syrerinnen und Syrern weiterhin praktisch unmöglich ist, von den Visaerleichterungen Gebrauch zu machen. Es bedarf daher einer Anpassung der Visaerleichterungen durch die Bundesinnenministerin, denn der Verwandtschaftsgrad und die Frage, ob jemand von der türkischen oder syrischen Seite der Grenze kommt, dürfen die angebotene Hilfe nicht länger blockieren.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Katastrophe, die uns seit Wochen in Atem hält, ist längst nicht vorbei, denn zu den zahllosen menschlichen Tragödien kommt die Zerstörung von Infrastruktur in ganzen Landstrichen. Das Erdbeben hat eine Region getroffen, die wie kaum eine andere von multikultureller Vielfalt geprägt ist. Menschen kurdischer, arabischer, armenischer und türkischer Herkunft, Juden, Christen und Aleviten hatten dort gemeinsam mit Muslimen ihre Heimat, die jetzt zum größten Teil in Trümmern liegt.

Neben der humanitären Hilfe, auf die die Menschen weiterhin angewiesen sein werden, steht auch noch die gigantische Arbeit des Wiederaufbaus bevor. Es ist daher gut, dass die EU eine internationale Geberkonferenz ausrichtet. Dabei muss klar sein, dass die Hilfe alle Menschen unabhängig von ihrer ethnischen und religiösen Herkunft erreichen und nachhaltig ausgerichtet sein muss. Die Region muss wieder zur Heimat verschiedener Kulturen werden.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Wir dürfen die Region auch in den kommenden Monaten und Jahren nicht aus den Augen verlieren. Wir in Nordrhein-Westfalen werden weiterhin unseren Beitrag zur Unterstützung leisten.

Es ist ein starkes Zeichen der vier demokratischen Fraktionen, dass wir mit dem Antrag den Trauernden gemeinsam sagen: Ihr seid nicht allein. Wir sehen euer Schicksal. Wir stehen heute, aber auch in Zukunft an eurer Seite.

Als jemand, dessen Familie direkt betroffen ist, weiß ich, wie bedeutend dieses Zeichen der Anteilnahme und Solidarität ist. – Ich danke Ihnen ganz, ganz herzlich.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)