Trägt die Landesregierung ihre Anti-Windenergiepolitik auf dem Rücken des Oberverwaltungsgerichtes Nordrhein-Westfalen aus?

Kleine Anfrage von Wibke Brems und Stefan Engstfeld

Portrait Wibke Brems 5-23

Am 10.12.2020 ist das Bundes-Investitionsbeschleunigungsgesetz in Kraft getreten. Ab diesem Zeitpunkt ist für alle Klagen in Windenergiesachen in erster Instanz das Oberverwaltungsgericht (OVG) zuständig. Betroffen sind sowohl Klagen von Investoren auf Durchsetzung bzw. Änderung der Genehmigung, als auch Anfechtungsklagen von Naturschutzverbänden und Nachbarn als natürliche Personen gegen Windenergiegenehmigungen. Des Weiteren fallen darunter u. a. auch sämtliche Fälle betreffend die Zurückstellung von Genehmigungsanträgen nach § 15 Abs. 3 BauGB. Auch in den regelmäßig parallel zum Hauptsacheverfahren geführten Eilverfahren ist das OVG nunmehr erstinstanzlich zuständig. Daneben bleibt das OVG zuständig für alle bei ihm in Windenergiesachen noch anhängigen Berufungs- und Beschwerdesachen. Das OVG bleibt zudem zuständig für die künftigen Berufungs- sowie Berufungszulassungsverfahren gegen Urteile der Verwaltungsgerichte in Angelegenheiten, die dort vor dem 10.12.2020 eingegangen sind. Zusätzlich sind beim OVG NRW neben den noch abzuarbeitenden zahlreichen Berufungsverfahren alle neuen nach dem 10.12.2020 dort durchzuführenden Verfahren in erster Instanz zu bewältigen, die nach alter Rechtslage auf die insgesamt sieben nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichte verteilt worden wären. Zieldes Investitionsbeschleunigungsgesetzes war es, die Gerichtsverfahren mit Windenergiebezug deutlich zu verkürzen, da sich ihre überlange Dauer als wesentliches Investitionshemmnis erwies. Pate gestanden haben dabei die Erfahrungen mit der Begründung der erstinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für verschiedene Infrastrukturvorhaben (Autobahnen, Schienenwege, Netzausbau), die vom Bundesverwaltungsgericht regelmäßig innerhalb von einem Jahr erledigt werden.

Windenergie onshore bildet auf Dauer neben der Photovoltaik die tragende Säule der Energiewende und kann vor diesem Hintergrund eine vergleichbare Bedeutung für sich reklamieren. Nach aktuellem Rechtszustand wird aber – anders als bei den vorgenannten Infrastrukturvorhaben – nur eine von vormals drei Instanzen gestrichen. Umso wichtiger ist es, durch entsprechende sachliche und personelle Ausstattung des OVG sicherzustellen, dass die nicht hinnehmbaren aktuellen Verfahrenslaufzeiten deutlich verkürzt werden. Diese Erwartungen drohen nach dem aktuellen status quo nicht nur enttäuscht, sondern geradezu konterkariert zu werden.

Die aktuell beim OVG NRW laufenden Berufungsverfahren werden vom 8. Senat bearbeitet. Die Verfahrenslaufzeiten betragen in Hauptsacheverfahren aktuell rund 1,5 bis 2,5 Jahre mit deutlich steigender Tendenz. Hinzuzurechnen ist die Dauer der ersten Instanz, die bei den Verwaltungsgerichten regelmäßig 2 bis 2,5 Jahre mit ebenfalls steigender Tendenz beträgt.

Es sind Fälle bekannt, in denen schon Eilverfahren beim OVG mehr als ein Jahr gedauert haben und Hauptsacheverfahren, selbst Berufungszulassungsverfahren, mehr als drei Jahre alt werden. Aktuell sollen beim 8. Senat noch über 50 Windenergiesachen anhängig sein. Die durchschnittliche Dauer der Verfahren beträgt ausweislich der offiziellen Statistik (www.justiz.nrw.de) beim OVG NRW im Jahr 2018 23,6 Monate, im Jahr 2019 17,8 Monate. Windenergiesachen sind insoweit allerdings nicht ansatzweise repräsentativ, da sie sich regelmäßig als außerordentlich komplex erweisen. Sie sprechen eine Vielzahl potentiell entgegenstehender öffentlicher Belange an und sind daher auch im Vergleich zu anderen Verfahren deutlich umfangreicher.

Die aktuelle Geschäftsentwicklung lässt keine Entlastung erwarten. Die Eingänge in 2018 beim OVG betrugen 5.404 Verfahren, 2019 5.270. Der Bestand an Berufungsverfahren betrug beim OVG insgesamt 2.651 (2017), 3.537 (2018) und 4.025 (2019) Verfahren. Bei den Beschwerdeverfahren ergibt sich ein ähnliches Bild. Der Bestand stieg von 2017 bis 2019 von 356 auf 471 Verfahren pro Jahr. Allein die für das OVG insgesamt veröffentlichten Zahlen zeigen, dass in Zukunft beim OVG insgesamt mit einer steigenden Verfahrensdauer zu rechnen ist, unabhängig von der zusätzlichen Belastung mit bisher den Verwaltungsgerichten zugewiesenen Verfahren.

Die Belastung mit zweitinstanzlichen Windenergiesachen wird kurzfristig nicht abnehmen. Allein bei der zuständigen 11. Kammer des Verwaltungsgerichts Minden sind noch rund 70 Immissionsschutzverfahren, fast alle in Windenergiesachen, rechtshängig. Auch zeichnete sich bis zum 10.12.2020, der Beendigung der erstinstanzlichen Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte, eine deutlich zunehmende Tendenz bei den neuen Eingängen ab, sodass auch für die übrigen Verwaltungsgerichte mindestens für die nächsten zwei bis drei Jahre damit zu rechnen ist, dass die Zahl der von dort aus in die zweite Instanz zum OVG abgegebenen Fälle nicht geringer wird.

Seit dem 10.12.2020 sind vom OVG zusätzlich alle erstinstanzlichen Windenergiesachen zu bearbeiten. Daran wird schon auf den ersten Blick deutlich, dass ohne eine signifikant verbesserte Ausstattung des OVG in sachlicher und vor allem personeller Hinsicht die Verfahrenslaufzeiten nicht mehr kontrolliert werden können und mehr als deutlich über die bisherige Dauer hinaus anwachsen würden. Damit wäre der Zweck des Investitionsbeschleunigungsgesetzes ins Gegenteil verkehrt.

Aktuell zeichnet sich aber genau diese Situation ab: Mangels vorhandener sachlicher und personeller Ressourcen sah sich das OVG nicht in der Lage, spezielle, eigens für Windenergiesachen zuständige Senate zu bilden. Es konnte nicht einmal erreicht werden, dass die Zahl der für Windenergiesachen zuständigen Richter erhöht wird. Der zum Jahresende verabschiedete Geschäftsverteilungsplan sieht lediglich vor, dass ein Teil der Windenergiesachen vom 8. auf den 7. Senat verlagert wird. Weder dem einen noch dem anderen Senat konnten aber zusätzliche Planstellen zugewiesen werden.

Vor diesem Hintergrund fragen wir die Landesregierung:

  1. Wie viele Verfahren in Windenergiesachen sind bei den nordrhein-westfälischen Gerichten noch anhängig? (Bitte aufgeschlüsselt nach erstinstanzlichen Verfahren, Berufungszulassungs- und Berufungsverfahren unter Angabe der bisherigen Verfahrensdauer und nach Verwaltungsgerichten bzw. Oberverwaltungsgericht getrennt aufführen)
  2. Wie viele Windenergieverfahren sind zwischen dem 01.01.2018 und dem 09.12.2020 bei den nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichten eröffnet worden? (Bitte aufgeschlüsselt nach Haupt- und Eilverfahren sowie Gericht und Jahr aufführen)
  3. Wie viele Windenergieanlagen sind von den vorgenannten Verfahren betroffen? (Bitte Anzahl der Anlagen, Leistung in Megawatt und geschätztes Investitionsvolumen angeben)
  4. Mit welchen Anpassungen bzw. Änderungen im Haushalt für das Justizministerium wird die Landesregierung den sich aus dem Investitionsbeschleunigungsgesetz ergebenden zusätzlichen Personalbedarf am Oberverwaltungsgericht ab dem Jahr 2021 abbilden?
  5. Mit welchen weiteren konkreten Maßnahmen wird die Landesregierung sicherstellen, dass mit dem Inkrafttreten des Investitionsbeschleunigungsgesetzes, wie intendiert, eine erhebliche Verkürzung der Verfahrenslaufzeit in Windenergiesachen auch tatsächlich erreicht wird?