I. Gefährdete Menschen retten – aus Kabul und aus Nachbarstaaten!
Nach dem Abzug der US-amerikanischen und damit auch Bundeswehr-Truppen haben die Taliban Afghanistan mittlerweile fest in der Hand. Nun sind viele tausend Menschen, die sich als Ortskräfte, als Frauenrechtsaktivistinnen, als Künstler und als Journalistinnen in den letzten Jahren für den Aufbau von demokratischen, zivilgesellschaftlichen und rechtstaatlichen Strukturen in Afghanistan eingesetzt haben direkt bedroht. Diesen desaströsen Zustand hat die Bundesregierung mitzuverantworten, die sich aus innenpolitischem Kalkül heraus bewusst viel zu lange der Realität in Afghanistan verweigert hat. Mit den Anschlägen am Flughafen in Kabul am 26. August, bei denen über 100 Menschen getötet und unzählige verletzt wurden, darunter mindestens 72 Zivilisten und 13 US-Soldaten, erreicht die Krise eine neue Dimension von Gewalt1.
Die Bundesregierung steht in der Verantwortung, möglichst viele Menschenleben zu retten. Die Evakuierung von Menschen aus Afghanistan hat höchste Priorität. Ob und wie lange Evakuierungen aus Afghanistan noch möglich sind, bleibt unklar.2,3 Bislang (Stand 27.08.) wurden 5347 Personen ausgeflogen4. Für viele Menschen kommt jedoch jegliche Hilfe zu spät. Ebenso erhärtet sich der Verdacht, dass die Taliban schwere Menschenrechtsverstöße gegenüber Zivilistinnen und Zivilisten und ehemaligen Regierungsmitarbeitenden verüben. Bei einer Sondersitzung des UN-Menschenrechtsrats in Genf berichtete die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet von Massenhinrichtungen5. Auch Human Rights Watch (HRW) berichtete über ähnliche Menschenrechtsverstöße in den Provinzen außerhalb der Hauptstadt, womit die Amnestie-Zusage der Taliban offensichtlich hinfällig ist6. Ebenso zweifeln Betroffene an deren Ankündigung, dass Frauen und Mädchen weiterhin die Schule besuchen oder zur Arbeit gehen können, zudem kursieren bereits Berichte von Zwangsverheiratungen7. Damit sind besonders Frauen davon bedroht, elementare Freiheiten, wie etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit unter der Taliban-Herrschaft einzubüßen und aus dem öffentlichen Leben verbannt zu werden.
Bund und Länder haben sich im Rahmen einer Sonder-Innenministerkonferenz darauf geeinigt, ein Bund-Länder-Aufnahmeprogramm für Afghaninnen und Afghanen aufzulegen. Es ist zu begrüßen, dass bereits einzelne Bundesländer wie Schleswig-Holstein, Berlin und Thüringen darüber hinaus ein eigenes Landesaufnahmeprogramm angekündigt haben. NRW reiht sich in den allgemeine Hilfsbereitschaft ein und hat angeboten, über den Königsteiner Schlüssel hinaus, gefährdete Personen und ihre Familien aufzunehmen. Die Landesregierung muss sich nun beim Bund dafür einsetzen, dass die verabredeten Vorhaben umgehend umgesetzt werden. Ebenso sollte sie sich dafür einsetzen, dass die ad-Hoc-Evakuierung auch aus Anrainer- und Transitstaaten ermöglicht wird. Dies gilt insbesondere für diejenigen Personen, die auf den Evakuierungslisten stehen und in andere Länder fliehen. Ebenso müssen die Verantwortlichen auf Bundes- und EU-Ebene schnell Möglichkeiten schaffen, über Resettlementprogramme auch aus Nachbar- und Transitstaaten afghanische Geflüchtete aufzunehmen. Genauso wichtig wie internationale Absprachen ist dabei die Zusammenarbeit mit den Botschaften in den Ländern und dem UNHCR, um die Ausreise nach Europa und Deutschland zu ermöglichen. Für das Verfahren muss die Bundesregierung gewährleisten, dass personelle und sachliche Ressourcen in allen Botschaften so aufgestockt werden, dass Visa zügig bearbeitet werden können.
Ziel muss sein, möglichst viele der gefährdeten Personen in Sicherheit zu bringen. Auch hier in NRW leben ca. 45.000 Afghaninnen und Afghanen in Angst um ihre Angehörigen. Es ist unerlässlich, dass auch Familienangehörige, die nicht im klassischen Sinne zur Kernfamilie gehören oder Kinder, die alleinstehend und bereits volljährig sind, Schutz und Sicherheit finden. Das Aufenthaltsgesetz bietet hierzu die nötigen Voraussetzungen. Diese sind großzügig anzuwenden.
Tausende afghanische Asylsuchende sind weiterhin in Asyllagern innerhalb der EU oder an den Außengrenzen gestrandet. Vor dem Hintergrund der katastrophalen Situation in Afghanistan muss NRW bereitstehen, auch afghanische Geflüchtete aus diesen Ländern aufzunehmen.
Sichere Bleibeperspektiven für in NRW lebende Afghaninnen und Afghanen!
Noch am 04.08.2021 und damit nur eine Woche vor der Einnahme der afghanischen Hauptstadt Kabul durch die Taliban stellten sich Ministerpräsident Laschet und Flüchtlingsminister Dr. Stamp entschieden gegen einen generellen Abschiebestopp. Dieser würde von Schleppern „propagandistisch ausgenutzt“ und als „Generaleinladung uminterpretiert“, so Dr. Stamp. Grundsätzlich wolle die Landesregierung daher an ihrer Praxis festhalten, Straftäter und Gefährder nach Afghanistan abzuschieben8. Dem pflichtete auch CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet bei. Am 16.08. sagte er: „2015 darf sich nicht wiederholen.“
Aktuell leben hier in NRW etwa 4.000 Afghaninnen und Afghanen, die lediglich über eine Duldung verfügen und somit kein sicheres Bleiberecht haben. Sie müssen mit der Angst leben, jederzeit in ein Land abgeschoben zu werden, in dem Krieg und Terror herrscht. Ihnen ist momentan auch noch die Möglichkeit, Familiennachzug für ihre Angehörigen zu beantragen, sowie wichtige Zugänge zu Integrationskursen, sozialen Hilfen, dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verwehrt oder eingeschränkt. Sie leben also in ständiger Perspektivlosigkeit. Aufgrund der tatsächlichen Gründe, die eine Ausreise dieser Personengruppe der Geduldeten nach Afghanistan auch in absehbarer Zeit unmöglich machen, muss Flüchtlingsminister Dr. Stamp die
Ausländerbehörden jetzt anweisen, den betroffenen Personen zügig ein Bleiberecht zu erteilen und Ermessensspielräume bspw. in Bezug auf Identitätsnachweise, großzügig auszuschöpfen. Und es bedarf dringend eines bundesweiten generellen und unbefristeten Abschiebestopps. Im Rahmen der Innenministerkonferenz sollte sich NRW dafür stark machen
Da einige der ankommenden Personen wie etwa die Ortskräfte und deren Familien aus Afghanistan direkt einen Aufenthaltsstatus erlangen, ist eine frühe und enge Kooperation mit den Kommunen besonders wichtig. Im Rahmen des Netzwerks „Sichere Häfen“ stehen auch viele Kommunen hier in NRW, wie etwa die Großstädte Köln, Bonn und Düsseldorf, bereit, die die Aufnahme von Geflüchteten in Not bereits mehrmals signalisiert und beschlossen haben. Die Zuweisung von Afghaninnen und Afghanen muss so früh wie möglich mit den entsprechenden Kommunen rückgekoppelt werden, sodass diese ihre Ressourcen vorbereiten und zur Verfügung stellen können. Gemeinsam mit ihnen muss die Landesregierung Mehrbedarfe, etwa bei der psychosozialen Betreuung, eruieren und bei der Organisation unterstützend zur Seite stehen. Denn nicht nur die neuankommenden Menschen aus Afghanistan, Ortskräfte und Mitarbeitende bei Hilfsorganisationen sollten bei Bedarf ein psychotherapeutisches Beratungsangebot erhalten, das Land muss auch diejenigen im Blick behalten, die schon in NRW leben und Gefahr laufen, durch die aktuellen Ereignisse in ihrem Heimatland retraumatisiert zu werden. Für weitere Bedarfsermittlungen, für den Informationsaustausch zur stetig aktualisierten Länderinformation und für weitere Expertise sollten spezialisierte Beratungsstrukturen wie die PSZs sowie weitere zivilgesellschaftliche und internationale Organisationen und die afghanische Community systematisch einbezogen und zielgerichtet miteinander vernetzt werden. Des Weiteren muss die Landesregierung mehrsprachige Informationen auf ihren Homepages zu spezialisierten Hilfsangeboten, der aktuellen Lage in Afghanistan und eine Hotline für weiterführende Fragen zur Verfügung stellen.
Mittelfristig Hilfeleistungen vor Ort schaffen!
Gleichzeitig befinden sich über 3 Mio. Binnenvertriebene in Afghanistan auf der Flucht9. Einige internationale Hilfsorganisationen, wie bspw. der UNHCR, bleiben weiterhin in der Region. Neben der Machtergreifung durch die Taliban kämpft die Bevölkerung mit einer langanhaltenden Dürre und den Folgen der Corona-Pandemie. Bund, Länder, EU und die internationale Gemeinschaft müssen daher finanzielle und materielle Hilfen bereitstellen, um die Hilfsorganisationen vor Ort mit Unterkünften, Nahrungsmittelhilfen, Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen, Bildung in Notsituationen und verschiedenen Schutzdiensten für Frauen und Kinder zu unterstützen.
II. Der Landtag stellt fest:
Auch nach Ende der Luftbrücke müssen noch viele Helfer vor Ort, Menschenrechtsaktivisten und Frauenrechtler, die sich für ein demokratisches und freies Afghanistan eingesetzt haben aus Afghanistan evakuiert werden. Höchste Priorität hat jetzt, so viele Menschenleben wie möglich zu retten. Landes- und Bundesregierung stehen in der Pflicht, alles zu tun, unbürokratisch und umgehend möglichst viele Menschen vor der Gewalt der Taliban in Sicherheit zu bringen, denn Afghaninnen und Afghanen hier in Deutschland können aus tatsächlichen Gründen nicht mehr zurück in ihr Land, denn Afghanistan ist nicht sicher. Damit ist klar, dass es auf absehbare Zeit keine Abschiebungen dorthin mehr geben kann. Ministerpräsident Laschet und Flüchtlingsminister Dr. Stamp müssen deshalb schnellstmöglich dafür sorgen, Schutzsuchenden aus Afghanistan aus humanitären Gründen eine sichere Bleibeperspektive hier in NRW zu ermöglichen.
III. Der Landtag beschließt:
Die Landesregierung wird daher aufgefordert,
- sich nachdrücklich für die schnelle Umsetzung eines dauerhaften Bund-Länder Aufnahmeprogramms einzusetzen und darüber hinaus ein Landesaufnahmeprogramm aufzulegen, um die Aufnahme von geflüchteten Afghaninnen und Afghanen auch im Rahmen des Resettlements aus Anrainer- und Transitstaaten zu ermöglichen;
- nach der Beendigung der militärischen Evakuierungsmaßnahme die Rettung von Personen, die auf den Listen stehen, auch aus den Nachbarländern Afghanistans zu ermöglichen und die Gruppe der zu evakuierenden vulnerablen und/oder gefährdeten Personen neben Ortskräften und Frauenrechtsaktivistinnen auf Journalistinnen, Aktivisten, ehemalige Regierungsbeamte und deren Familienangehörige, auch über die Kernfamilie hinaus, auszuweiten und ihnen eine Aufenthaltsperspektive zu verschaffen;
- Familienangehörige von in NRW lebenden Afghaninnen und Afghanen zu identifizieren, diese beim Bund zu benennen und sich für deren Evakuierung einzusetzen;
- sich für die Aufnahme von afghanischen Asylbewerberinnen und -bewerbern innerhalb und vor der europäischen Grenze stark zu machen;
- die in NRW ankommenden Afghaninnen und Afghanen schnell den Kommunen zuzuweisen und dafür eng mit aufnahmebereiten Kommunen zu kooperieren und diese bei der Organisation für die Aufnahme und Versorgung von Afghaninnen und Afghanen zu unterstützen;
- per Erlass die Ausländerbehörden klar anzuweisen, dass sie die Bedingungen für eine Aufenthaltsberechtigung für die hier in NRW lebenden Afghaninnen und Afghanen mit Duldung wohlwollend und zielgenau prüfen und dabei auf die Vorlage eines afghanischen Passes zur Identitätsprüfung verzichten;
- einen Runden Tisch/Beratungsstab einzusetzen und regelmäßig einzuberufen, der die afghanische Community in NRW mit sozialen Trägern, wie etwa die Psychosozialen Zentren und internationalen NGOs vernetzt, um Angebote für psychosoziale Betreuung und Beratung bedarfsgerecht zu erweitern und aktuelle und mehrsprachige Länderinformationen bereitzustellen. Entsprechende Informationsangebote und eine Anlaufstelle für Hilfesuchende sind auf den Homepages der Landesregierung einzurichten;
- sich im Rahmen der Innenministerkonferenz für einen generellen und unbefristeten Abschiebestopp auf Bundesebene einzusetzen;
- afghanischen Asylbewerberinnen und -bewerbern einen unbeschränkten Zugang zu Sprachkursen und zu den Instrumenten der Ausbildungs- und Arbeitsförderung im SGB II und III zu ermöglichen;
- nachdrücklich einzufordern, dass der bisherige Entscheidungsstopp über laufende Asylverfahren des BAMF aufgehoben und stattdessen positiv zugunsten einer Schutzgewährung bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschieden wird;
- sich beim Bund für schnellere und unbürokratische Bearbeitung und Bewilligung von Visa sowie von neu gestellten und bereits beantragten Familiennachzugsverfahren einzusetzen, etwa durch den Einbezug aller Botschaften und Aufstockung deren Personals.
1 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-taliban-blog-100.html
4 https://twitter.com/BMVg_Bundeswehr
5 https://www.tagesschau.de/ausland/asien/un-afghanistan-menschenrechtsverletzungen-101.html
6 https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-taliban-behoerden-101.html
7 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-frauen-rechte-100.html
8 https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/abschiebungen-afghanistan-112.html