I. Ausgangslage
„Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.“ Mit diesen Worten beschrieb Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung vom 15. Dezember 1954 sehr anschaulich den Weg der damaligen europäischen Integration. Heute ist die Europäische Union das größte politische Erfolgsprojekt unserer Zeit. Sie hat den Menschen in Deutschland und Europa Frieden, Freiheit, Demokratie, Sicherheit und Wohlstand gebracht.
Rund 450 Millionen Menschen können innerhalb der Europäischen Union grenzenlos reisen, lernen, arbeiten und leben. Gleichwohl steht die Europäische Union heute vor einer Reihe nie dagewesener Herausforderungen. Seit Beginn der aktuellen Legislaturperiode der Europäischen Kommission im Jahr 2019 haben zahlreiche externe Ereignisse, wie die Corona-Pan-demie, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die daraus resultierenden drastisch steigenden Energiepreise und Lebenshaltungskosten sowie jüngst der Terrorangriff der Ha-mas auf Israel, die europäische und internationale Politik maßgeblich bestimmt.
Hinzu kommen die nach wie vor drängenden Herausforderungen unserer Zeit wie der fortschreitende Klimawandel und der rapide Verlust an natürlichen Lebensräumen und Artenvielfalt, die digitale Revolution, künstliche Intelligenz, die Migration sowie die Ermöglichung und Sicherstellung von Wirtschaftswachstum und fairem Wettbewerb.
Am 17. Oktober 2023 hat die Präsidentin der Europäischen Kommission das Arbeitsprogramm der Kommission für das Jahr 2024 vorgestellt. Unter dem Titel „Heute handeln, um für morgen bereit zu sein.“ wird ein besonderes Augenmerk auf die Vereinfachung der Vorschriften für Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in der gesamten Europäischen Union gelegt. Das Arbeitsprogramm zieht einerseits Bilanz aus den vergangenen vier Jahren, die durch verschiedene Krisen wie die Corona-Pandemie oder die Energiekrise geprägt waren. Die multiple Krisenlage hat zu Anpassungen der 2019 vorgestellten politischen Leitlinien der Europäischen Kommission für die Jahre 2019-2024 geführt.
Das befristete Aufbauinstrument Next Generation EU, die gemeinsame Impfstoffbeschaffung und der REPowerEU-Plan sind nur drei Beispiele, wie auf die Herausforderungen reagiert wurde. Andererseits stellt das neue Arbeitsprogramm auch 18 neue Initiativen für die nächsten Monate vor, insbesondere zum Bürokratieabbau, die sich allesamt an den sechs übergreifenden Zielen der politischen Leitlinien orientieren. Unter anderem wird die Ankündigung konkretisiert, bürokratische Pflichten für Unternehmen zu reduzieren, um die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union zu stärken. Ein letzter wichtiger Teil des Arbeitsprogramms befasst sich mit der Reduzierung und Vereinfachung bestehender und geplanter Gesetzgebung. Dabei fokussiert sich die Europäische Kommission ausschließlich auf die Jahre 2023 und 2024.
Neben den neuen Initiativen wird eine Übersicht zu den wichtigsten offenen Dossiers gegeben, die aus Sicht der Kommission noch vor den Wahlen 2024 abgeschlossen werden sollten. Bereits am 14. Dezember 2023 hat der Europäische Rat die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau eröffnet. Am 20. Dezember 2023 haben sich die EU-Staaten und das Europaparlament im Grundsatz auf die Reform des gemeinsamen Asylsystems geeinigt.
Bei der Europawahl am 9. Juni 2024 handelt es sich um den umfangreichsten demokratischen Prozess auf unserem Kontinent. Unter den mehr als 400 Millionen wahlberechtigten Menschen werden viele junge Menschen zum ersten Mal ihre demokratischen Rechte ausüben. Neben Deutschland dürfen in vier weiteren Mitgliedstaaten auch 16- und 17-Jährige wählen. Die Wahlen finden in einem herausfordernden Umfeld statt. Um Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand weiterhin gewährleisten zu können, braucht es mehr denn je eine Europäische Union, die uns allen dient, für die Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen einen konkreten Mehrwert schafft und auf die globalen Herausforderungen die richtigen Antworten gibt und als geopolitischer Akteur handlungsfähig ist.
Dabei haben Entscheidungen auf europäischer Ebene auch direkte Auswirkungen auf die Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in Nordrhein-Westfalen. Zahlreiche Projekte sowie nicht zuletzt der Strukturwandel in unseren Kohleregionen werden maßgeblich durch die Europäische Union mitfinanziert. Bürgerinnen und Bürger können beispielsweise über die niederländische oder belgische Grenze fahren und ohne zusätzliche Kosten telefonieren oder Auslandsaufenthalte über Erasmus+ absolvieren. Die Bürgerinnen und Bürger Nordrhein-Westfalens entscheiden daher bei der kommenden Europawahl auch darüber, welchen Weg die Europäische Union mitsamt den Auswirkungen für Deutschland und Nordrhein-Westfalen in den nächsten Jahren einschlagen wird. Daher kommt den zahlreichen Bemühungen der Landesregierung, die Kenntnisse zur Europäischen Union und damit letztlich auch die Wahlbeteiligung zu erhöhen, eine besondere Bedeutung zu.
Besonders in den Grenzregionen Nordrhein-Westfalens werden die Vorteile der europäischen Integration sichtbar. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den Niederlanden und Belgien wurde in den vergangenen Jahren immer weiter ausgebaut und intensiviert. Sie umfasst von Natur- und Umweltschutz über Wirtschaft und Technologie, Bildung und Forschung, Arbeit und Soziales, Gesundheit, Verkehr, Kultur und Tourismus bis hin zur öffentlichen Ordnung alle Politikfelder und Bereiche des öffentlichen Lebens. Immer mehr gewinnt die Zusammenarbeit bei der klimaneutralen Transformation der Wirtschaft an Gewicht.
Mit den Europapolitischen Prioritäten, die im Februar 2023 vorgestellt wurden, besitzt die Landesregierung Nordrhein-Westfalen ein Instrument, um ihre Europapolitik zu fokussieren, zu koordinieren und sie strategisch auszurichten. Sie definieren nordrhein-westfälische Interessen auf europäischer Ebene und positionieren das Land als aktiven und eigenständigen Akteur in der europäischen Politikgestaltung.
Vor dem Hintergrund der Europawahl und dem Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission gilt es diese weiterhin strategisch auszurichten und das Land Nordrhein-Westfalen als einen wichtigen Akteur in der europäischen Politikgestaltung zu festigen.
II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest:
- Als Land im Herzen Europas profitiert Nordrhein-Westfalen und mit ihm seine Bürgerinnen und Bürger von einer starken Europäischen Union.
- Nordrhein-Westfalen ist ökonomisch, ökologisch und kulturell mit Regionen und Ländern in anderen Teilen Europas eng verbunden. Vor allem in den Grenzregionen ist die Grenze dank enger Kooperationen auf vielen Gebieten für die Menschen oft kaum mehr wahrnehmbar. Weiterhin bestehende Hindernisse gilt es abzubauen.
- Die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau durch den Europäischen Rat am 14. Dezember 2023 ist ein wichtiger Schritt und macht deutlich, dass die Europäische Union eng an der Seite dieser Länder steht.
- Das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für das Jahr 2024 ist eine gute Basis und liefert wertvolle Impulse für die Arbeit der Landesregierung.
- Deutschland und Nordrhein-Westfalen bringen ihre Stimme und Gewicht in die europäischen Gestaltungsprozesse mit ein und nehmen damit Einfluss auf die europäische Gesetzgebung. Für viele Länder ist die Gestaltungsmacht Europäische Union und die Perspektive auf Frieden und Wohlstand die Hoffnung auf eine bessere, friedliche Zukunft. Sie muss weiter attraktiv für die Beitrittskandidaten bleiben und deren Reformanstrengungen angemessen würdigen und unterstützen. Künftige Beitritte zur europäischen Union müssen aber Hand in Hand gehen sowohl mit institutionellen Reformen der Europäischen Union, um deren Handlungsfähigkeit zu erhalten, als auch mit Reformen bei den Beitrittskandidaten.
- Der Europawahl kommt aufgrund der zahlreichen Herausforderungen im Inneren wie im Äußeren der Europäischen Union eine zentrale Bedeutung zu.
Der Landtag beauftragt die Landesregierung aus vorhandenen Mitteln,
- im Rahmen ihrer europapolitischen Aktivitäten einen besonderen Fokus auf die anstehende Europawahl zu legen mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit dafür zu erhöhen und die Wahlbeteiligung zu steigern;
- weiter zu überprüfen, inwieweit es bei ihren eigenen europapolitischen Aktivitäten mögliche Synergien mit dem Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission und deren Zielsetzungen gibt;
- sich auf europäischer Ebene weiterhin für eine ambitionierte Umsetzung der Ziele des Europäischen Green Deal einzusetzen;
- sich auf europäischer Ebene weiterhin dafür einzusetzen, dass bürokratische Lasten wie Berichtspflichten für Behörden und Unternehmen weitestgehend reduziert und praxisnah ausgestaltet werden;
- die Ukraine sowie Nordmazedonien als Partnerland Nordrhein-Westfalens auf ihrem Weg in die Europäische Union weiter zu unterstützen;
- die Interessen und Schwerpunkte der Europaarbeit Nordrhein-Westfalens in den Prozess der Politikgestaltung bei der Europäischen Union weiter effektiv einzubringen.