Menschenunwürdige Situation an der türkisch-griechischen Grenze und in den griechischen Flüchtlingslagern spitzt sich zu – Landesregierung muss jetzt handeln

Antrag der GRÜNEN im Landtag

Portrait Berivan Aymaz 2021

Die Situation von Geflüchteten an der türkisch-griechischen Grenze spitzt sich dramatisch zu. Nach der von der Türkei verkündeten Öffnung der Grenze zur EU brachen mehrere tausend Geflüchtete nach Europa auf. Laut UNHCR harren aktuell ca. 13.000 Migrantinnen und Migranten vor der Grenze zur Griechenland aus (https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europaeische-union-intensiviert-grenzschutz-in-griechen- land-16659174.html). Der türkische Präsident Erdoğan missbraucht die Schutzsuchenden als Erpressungsmasse gegen die EU für seine innen- und außenpolitischen Interessen. Dieser zynische Schachzug kommt keineswegs überraschend. Ursache dafür ist der vielkritisierte Flüchtlingsdeal mit der Türkei und der Unwille der Mitgliedstaaten Verantwortung für eine gerechte Verteilung von Geflüchteten in der EU zu übernehmen. Das gewaltsame Vorgehen Griechenlands gegen die Geflüchteten und, damit verbunden, die faktische Aussetzung des Rechts auf Asyl dürfen so nicht hingenommen werden. Alle Mitgliedstaaten sind jetzt aufgefordert, sofortige Hilfsmaßnahmen einzuleiten, um die Situation nicht weiter zu eskalieren und nicht völlig im Chaos versinken zu lassen.
In den europäischen Hotspots auf den griechischen Inseln verschlechtert sich die Lage zunehmend. Die erschütternden Bilder über die menschenunwürdigen Zustände sind längst bekannt, genauso wie das Leid und Elend der Schutzsuchenden in den hoffnungslos überfüllten Camps. Neben fatalen hygienischen und medizinischen Bedingungen bleibt vielen der Zugang zu rechtlichen Strukturen verwehrt. Dies betrifft auch die Registrierung der Geflüchteten, mit der die griechischen Behörden aufgrund der Überbelegung der Camps trotz Unterstützung des UNHCR und weiteren Nichtregierungsorganisationen überfordert sind. Die dramatischen Zustände führten Ende Januar sogar zu einem Generalstreik der unterbesetzten Behörden vor Ort (https://www.tagesschau.de/ausland/griechenland-generalstreik-migrantenlager-101.html). Unter diesen Umständen leiden insbesondere die Schutzbedürftigsten unter ihnen: Schwangere, Frauen, Menschen mit Behinderung und über 5.300 unbegleitete Minderjährige (https://www.unhcr.org/dach/de/39239-griechenland-entschlossenes-handeln-noetig-um-alarmie- rende-bedingungen-auf-den-aegaeis-inseln-zu-beenden.html.
Fest steht: Griechenland muss dringend dazu angehalten werden, die eigenen Aufnahmebedingungen so zu verbessern, dass sie menschenwürdig sind. Dazu bedarf es zwingend der solidarischen Unterstützung aller europäischen Mitgliedstaaten. Fest steht auch, dass der unwürdige Kampf über politische Zuständigkeiten nicht auf den Rücken der Schutzbedürftigen ausgetragen werden darf. Für diese menschenunwürdigen Verhältnisse trägt jeder einzelne EU-Mitgliedstaat eine erhebliche Mitverantwortung, da frühere verbindliche Abmachungen nicht eingehalten wurden.
So einigten sich der Rat der Innen- und Justizminister 2015 über eine verbindliche Verteilung („relocation“) von 120.000 Flüchtlingen aus Griechenland (https://mediendienst-integration.de/de/artikel/europa-handelt-gegen-seine-eigenen-vorgaben.html. Bis Mai 2018 wurden jedoch nur insgesamt 10.825 Personen (davon 5.391 aus Griechenland) umverteilt, was nur 39% der verbindlichen Zusage entspricht (https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/eu-staaten-verfehlen-quoten-zur-umverteilung-von-asyl- suchenden).
Darüber hinaus beinhaltet die Dublin-Verordnung einen verbindlichen Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung. Dies betrifft auch viele Kinder in den Hotspots auf den griechischen Inseln, deren Angehörige sich bereits in einem Asylverfahren hier in Deutschland befinden oder anerkannt sind (Art. 7ff. Dublin-III-VO.).
Allerdings ist die Quote der bewilligten Übernahme-Ersuchen aus Griechenland von deutscher Seite seit 2017 erheblich zurückgegangen: Während 2017 noch 5.310 von 5.897 Übernahmeersuchen aufgrund familiärer Gründe bewilligt worden waren, lehnte Deutschland 2018 trotz erheblich gesunkener Zahlen über 60% (1.496 von 2.482) ab. Zwischen Januar und Mai 2019 waren es sogar 75% aller Anträge auf Familienzusammenführung gemäß der Artikel 8 – 11 der Dublin-III-Verordnung (https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/Refugee-Families-torn-apart_legal-note.pdf). Die Gründe für die Ablehnung sind dabei mehr als fragwürdig. Somit kam Deutschland seiner bisherigen europäischen Verpflichtungen selbst nicht nach, sodass eine Aufnahme von weiteren Asylsuchenden aus den europäischen Hotspots auf den griechischen Inseln keineswegs als „Alleingang“ zu definieren wäre, sondern vielmehr eine nachträgliche Erfüllung der verpflichtenden Quote bedeuten würde.
Kommunen und Zivilgesellschaft dringen auf schnelle Hilfe
Für immer mehr Städte und Gemeinden, Kirchen und Akteure der Zivilgesellschaft wie etwa der „Seebrücke“ sind die katastrophalen Zustände auf den griechischen Inseln und das Scheitern der europäischen Politik Anlass, selbst Verantwortung zu übernehmen. Kommunen in NRW, die Teil des Bündnisses „Sichere Häfen“ sind, erklären sich im Rahmen der „Bielefelder Erklärung“ bereit, über den Königsteiner Schlüssel hinaus Kinder und weitere schutzbedürftige Geflüchtete aus den griechischen Lagern bei sich aufzunehmen. Die Landesregierung in NRW muss nun dem Beispiel zahlreicher anderer Bundesländer wie Berlin, Niedersachsen, Thüringen, Schleswig-Holstein, Hamburg, Baden-Württemberg und Bremen folgen und sich für ein bundesweites Sofortprogramm stark machen. Die solidarischen Kommunen erwarten jetzt von der Landesregierung zügiges Handeln.

I.       Der Landtag stellt fest:

Die Lage an der türkisch-griechischen Grenze und in den Hotspots auf den griechischen Inseln ist eine humanitäre Katastrophe und darf nicht länger hingenommen werden. Menschen auf der Flucht dürfen nicht zum Spielball politischer Machtinteressen gemacht werden. Der fehlende politische Wille der EU-Mitgliedstaaten eine Lösung herbeizuführen, wird dem europäischen Wertekanon nicht gerecht. Es besteht die dringende Notwendigkeit, sowohl schnelle Lösungen für die Notleidenden vor Ort zu finden, als auch wohlüberlegte langfristige Vereinbarungen zu treffen, die realisierbar sind und auf Akzeptanz der europäischen Mitgliedstaaten stoßen. Deutschland kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten und mit einem Sofort-Programm die Lage in den griechischen Camps erheblich verbessern. Viele Kommunen in NRW sind dazu bereit, Verantwortung zu übernehmen. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen muss sie dabei aktiv unterstützen und alle notwendigen Maßnahmen einleiten, damit diese Aufnahmebereitschaft auch umgesetzt werden kann.

II.      Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

1.      ein bestimmtes Kontingent vornehmlich unbegleiteter minderjähriger Schutzbedürftiger und weiterer schutzbedürftiger Personengruppen aus Griechenland in NRW aufzunehmen;
2.      sich in enger Absprache mit den NRW-Kommunen, die sich bereit erklärt haben, Schutzbedürftige von den griechischen Inseln aufzunehmen, ein konkretes Kontingent zu vereinbaren und sich auf Bundesebene für die Realisierung stark zu machen; auf Bundesebene ein kurzfristiges Sofort-Programm einzufordern, mit dem ein Kontingent von 5.000 besonders schutzbedürftigen Geflüchteten, etwa unbegleitete minderjährige Geflüchtete und Menschen mit Behinderung, aus den Hotspot-Camps in Griechenland im Einklang mit der Dublin-III-Verordnung aufgenommen werden kann (Relocation);
3.      den Bund aufzufordern, kurzfristig in Erfahrung zu bringen, wie viele Geflüchtete in Deutschland und in den einzelnen Bundesländern gemäß der Dublin-III-Verordnung besonders schutzbedürftige Angehörige haben, die auf den griechischen Inseln verweilen;
4.      sich auf allen Ebenen, insbesondere auf der Bundesebene, dafür einzusetzen, dass an der EU-Außengrenze Erstaufnahmeeinrichtungen zur Versorgung und Registrierung der Geflüchteten aufgebaut werden, um dann die Verteilung der Geflüchteten über Kontingente in der EU zu organisieren. Die jeweiligen Asylverfahren sollen dann dort durchgeführt werden.