75 Jahre Europarat – 75 Jahre erfolgreicher Einsatz für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa

Antrag der Fraktionen von CDU und GRÜNEN im Landtag

Portrait Berivan Aymaz 2021

I. Ausgangslage

„Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa aufbauen“, sagte Sir Winston Churchill 1946 in einer Rede und umriss damit Aufgabe und Bedeutung, die dem Europarat als interna­tionale Organisation später zufallen sollte. Konrad Adenauer nannte ihn das „europäische Ge­wissen“. Gegründet wurde der Europarat mit Sitz in Straßburg am 5. Mai 1949. Zehn Staaten unterzeichneten damals in London die Satzung des Europarates. Heute hat der Europarat 46 Mitgliedstaaten, darunter alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die Europäische Union selbst befindet sich im Beitrittsprozess. Die Bundesrepublik Deutschland trat dem Gremium 1950 bei. Seit 1964 wird der Gründungstag alljährlich als „Europatag des Europarates“ gefei­ert. Dieses Jahr jährt sich die Gründung zum 75. Mal.

Der Europarat ist eine internationale Institution, die sich hauptsächlich für den Schutz der Men­schenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in Europa einsetzt. Die herausra­gende Bedeutung des Europarates liegt auch darin begründet, dass dort nicht nur Mitglieds­staaten der Europäischen Union zusammenarbeiten, die ohnehin auf allen politischen Ebenen eng kooperieren. Nach dem Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Uni­on ist der Europarat ein wichtiges Forum, um die enge Zusammenarbeit weiter fortzusetzen und bietet einen Anknüpfungspunkt für eine mögliche Rückkehr in den Staatenverbund der Europäischen Union.

Der Europarat hat die Aufgabe, einen engeren Zusammenschluss unter seinen Mitgliedern zu verwirklichen, um die Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe sind, zu schützen und zu fördern und um ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu begünstigen (Artikel 1 Satzung des Europarates). Wegweisend ist der Europarat bei der Schaffung eines gesamteu­ropäisch verbindlichen Rechtsrahmens zum Schutz von Menschenrechten, Rechtstaatlichkeit und pluralistischer Demokratie. Von zentraler Bedeutung ist die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention [EMRK]) von 1950. Um Mitglied im Europarat zu werden, muss jeder Staat die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnen. Die Konvention ist damit geltendes Recht in allen 46 Mitgliedstaaten des Europarates. Mit der Unterzeichnung verpflichten sich die Vertrags­staaten zur Achtung der Menschenrechte und Gewährung bestimmter Rechte und Freiheiten (Artikel 1). So verbrieft Artikel 2 das Recht auf Leben, die folgenden Artikel verbieten Folter (Artikel 3), Sklaverei und Zwangsarbeit (Artikel 4), garantieren das Recht auf Freiheit und

Sicherheit (Artikel 5), auf ein faires Verfahren (Artikel 6), auf Gedanken-, Gewissens- und Re­ligionsfreiheit (Artikel 9), auf freie Meinungsäußerung (Artikel 10), Versammlungs- und Verei­nigungsfreiheit (Artikel 11), auf wirksame Beschwerde (Artikel 13) und umfassen ein Diskrimi­nierungsverbot (Artikel 14).

Die Einhaltung der Verpflichtungen der Vertragsstaaten überwacht der Europäische Gerichts­hof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Er gewährleistet die Durchsetzung, wenn ein Staat bei der Anwendung seines nationalen Rechts oder bei dem Vollzug des Rechts der Eu­ropäischen Union die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt. Die Vertragsstaaten des Europarates haben sich der Jurisdiktion des Gerichtshofes unterworfen. Bürgerinnen und Bürger, auch in Nordrhein-Westfalen, können sich, nachdem alle innerstaatlichen Rechtsbe­helfe erschöpft sind, an den Gerichtshof wenden.

Der Europarat fördert die Menschenrechte auch mithilfe von weiteren über 200 internationalen Übereinkommen, die innerhalb des Europarates geschlossen wurden. Bereits 1961 wurde die Europäische Sozialcharta ausgearbeitet, die unter anderem das Recht auf Arbeit, das Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen und das Recht auf soziale Sicherheit festschreibt. Die revi­dierte Europäische Sozialcharta verankert unter anderem das Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung und stärkt das Diskriminierungsverbot. Die Europäische Konvention zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe sieht die Einrichtung eines internationalen Komitees vor, das regelmäßig Haftanstalten be­sucht, um die Behandlung der Personen, denen die Freiheit entzogen ist, zu überprüfen. Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt („Istanbul-Konvention“) ermöglicht die Schaffung eines Rechtsrahmens auf paneuropäischer Ebene, um Frauen vor allen Formen der Gewalt zu schützen und um Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhindern, strafrechtlich zu verfolgen und zu beenden.

Auch der Schutz von Minderheiten zählt zu den Tätigkeitsschwerpunkten des Europarats. Das rechtliche Fundament hierfür bilden die Europäische Charta der Regional- und Minderheiten­sprachen für den Schutz und die Förderung von Sprachen traditioneller Minderheiten gemein­sam mit dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, das einen Über­wachungsmechanismus zur Kontrolle und Verbesserung des Minderheitenschutzes vorsieht. Die Abteilung „Sexual Orientation, Gender Identity and Expression, and Sex Characteristics“ (SOGIESC) des Europarates unterstützt die Mitgliedstaaten unter anderem durch Kooperati­onsaktivitäten zur Verbesserung der rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen und fördert das Bewusstsein für die Bedeutung von Maßnahmen gegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der Geschlechtsidentität.

Rechtsstaatlichkeit ist eine tragende Säule des Wirkens des Europarates. Um seine Grund­werte zu verwirklichen, fördert und fordert der Europarat politische, gesetzgeberische und ver­fassungsrechtliche Reformen in den Mitgliedstaaten. Die Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) beispielsweise identifiziert nationale Lücken bei der Bekämpfung von Korruption und unterstützt die Mitgliedstaaten bei Reformen. Die sogenannte Venedig-Kommission, ein unab­hängiges Beratungsgremium, berät Mitgliedstaaten und auch internationale Organisationen in Verfassungsfragen und erstellt unter anderem Expertisen (legal opinions). Die Europäische Kommission für die Effizienz der Justiz (CEPEJ) des Europarates trägt mit ihrer Arbeit zur Verbesserung der Justizsysteme der Mitgliedstaaten bei und leistet damit auch einen Beitrag dazu, das Vertrauen in die Justiz zu stärken. Durch Beratung und Beobachtung unterstützt die Parlamentarische Versammlung des Europarates zudem die Durchführung demokratischer, freier und fairer Wahlen in Europa. Dieses Jahr soll ein neuer Lenkungsausschuss für Demo­kratie seine Arbeit aufnehmen und damit die wichtige Arbeit des Europäischen Komitees für Demokratie und Regierungsführung (CDDG) weiterführen, demokratische Institutionen auf al­len Regierungsebenen zu stärken.

Demokratie lebt von der aktiven Einbeziehung und gesellschaftlichen Teilhabe der Bürgerin­nen und Bürger in ihrer gesamten Vielfalt. Um diese Teilhabe und gesellschaftliches Engage­ment zu fördern, entwickelt der Europarat Strategien und Werkzeuge zur Förderung des Wis­sens und Bewusstseins über Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Jugendli­chen kommt dabei als Zielgruppe eine bedeutsame Rolle als Akteure und „agents of change“ zu. Der Europarat verfolgt das Ziel, Jugendliche für seine Werte zu begeistern. Bereits 1972 gründete der Europarat das Europäische Jugendwerk. Es unterstützt europäische Jugendak­tivitäten und vergibt Zuschüsse für Projekte, die im Einklang mit den Werten und Zielen des Europarats stehen. Die Europäischen Jugendzentren in Budapest und Straßburg unterbreiten ein vielfältiges Programmangebot, um junge Menschen aktiv an der Stärkung der europäi­schen Gesellschaft und europäischer Werte zu beteiligen.

Auch subnationale staatliche Einheiten haben einen entscheidenden Anteil an der Stärkung der europäischen Zusammenarbeit und dem Zusammenwachsen einer europäischen Gesell­schaft. Der Europapreis des Europarates würdigt seit 1955 den besonderen Einsatz von Städ­ten und Gemeinden für die Stärkung eines vereinten Europas. Das europäische Engagement einer Stadt oder Gemeinde kann auf vielfältige Weise zum Ausdruck kommen, etwa durch die Pflege von Städtepartnerschaften. Innerhalb des Europarates verleiht der Kongress der Ge­meinden und Regionen Europas (KGRE) den Gemeinden und Regionen eine Stimme. Die dortige Repräsentanz deutscher Bundesländer macht den Kongress zu einem herausragen­den Instrument der Interessenvertretung und Mitbestimmung auf europäischer Ebene. Der Kongress berät das Ministerkomitee und die parlamentarische Versammlung des Europarates in Fragen der Regional- und Gemeindepolitik. Zu den Zielen des Gremiums gehört unter an­derem die Förderung effizienter und inklusiver Regierungsstrukturen auf kommunaler und re­gionaler Ebene sowie die Stärkung der grenzüberschreitenden und regionalen Zusammen­arbeit.

Nordrhein-Westfalen als Bundesland im Herzen Europas fühlt sich den Werten und Zielen des Europarates in besonderem Maße verbunden. Die Fraktionen von CDU und GRÜNEN haben bereits in ihrem Antrag „Nordrhein-Westfalen setzt Zeichen für die Achtung universeller Men­schenrechte“ (Landtags-Drucksache 18/6361 vom 17. Oktober 2023) unterstrichen, dass sich Nordrhein-Westfalen zu der 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen ver­kündeten Internationalen Erklärung der Menschenrechte bekennt und fest an der Seite all der­jenigen steht, die sich für die Achtung der Menschenrechte, für Demokratie, Rechtsstaatlich­keit und Freiheit einsetzen. Nordrhein-Westfalen bekennt sich zu den universellen Menschen­rechten und setzt sich aktiv für diese ein.

Im vergangenen Jahr hat die Landesregierung auf Initiative der Fraktionen von CDU und GRÜ­NEN zum ersten Mal eine „Woche der Menschenrechte“ ausgerichtet und mit einem vielfälti­gen Programm aus Podiumsdiskussionen, Ausstellungen und einem Filmabend nicht nur den Austausch mit den engagierten Bürgerinnen und Bürgern Nordrhein-Westfalens gesucht, son­dern vor allem auch ein in der gesellschaftlichen Breite sichtbares Schlaglicht auf das Thema Menschenrechte geworfen. Diese Aufmerksamkeit ist dringend notwendig. Deshalb soll die Einrichtung einer Woche der Menschenrechte rund um den inter-nationalen Tag der Men­schenrechte am 10. Dezember verstetigt werden, um das Bewusstsein um die Bedeutung der Menschenrechte und ihrer Gewährleistung auch im Sinne der Ziele des Europarates weiter zu befördern. Des Weiteren hat der Landtag Nordrhein-Westfalen das Programm „Demokratie-Brücken“ ins Leben gerufen. Dabei können Abgeordnete Patenschaften für Parlamentarierin­nen und Parlamentarier bzw. Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten übernehmen, die weltweit in ihren Ländern bedroht oder verfolgt werden oder inhaftiert sind.

Als Bundesland im Herzen Europas ist Nordrhein-Westfalen Europa, der europäischen Idee und europäischen Werten zutiefst verbunden und erkennt die zentrale Rolle des Europarates als Hüter der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit an. Diese Werte und das Wissen um die zentralen Akteure auf europäischer Ebene und ihre Bedeutung für unser Land fördert Nordrhein-Westfalen mit den Europa-Schecks. Dabei werden unter anderem Projekte unterstützt, die Wissen über die Europäische Union und den Europarat vermitteln, den Europ­agedanken und seine Werte verbreiten und den Mehrwert von Europa für den Erhalt von Frie­den, Freiheit und Wohlstand aufzeigen. Die Demokratie als einen Grundpfeiler Europas und des Europarats gilt es zu verteidigen.

Zahlreiche nordrhein-westfälische Kommunen pflegen Städtepartnerschaften oder andere Ko­operationsformate mit Kommunen weltweit. Durch sie wird der Gedanke der Völkerverständi­gung, der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und des grenzenlosen Austauschs gelebte kommunale Wirklichkeit. Seit 20 Jahren besteht zudem auf Landesebene eine enge Partner­schaft mit der französischen Region Hauts-de-France. Im sogenannten Regionalen Weimarer Dreieck kooperieren Hauts-de-France, Nordrhein-Westfalen und Schlesien. Zuletzt begründe­ten das Land Nordrhein-Westfalen und die ukrainische Oblast Dnipropetrowsk eine regionale Partnerschaft. Neben Partnerschaften entsendet Nordrhein-Westfalen ein Mitglied des Land­tags in den Kongress der Gemeinden und Regionen Europas. Damit hat Nordrhein-Westfalen im Europarat eine Stimme, die auf die Ausgestaltung der europäischen Kommunal- und Regi­onalpolitik Einfluss nimmt.

Die Arbeit des Europarates ist heute wichtiger denn je. Weltweit stehen Menschenrechte, De­mokratie und Rechtsstaatlichkeit unter Druck – auch in Vertragsstaaten des Europarates. Die Anzahl der Demokratien sinkt. In einer am 19. März 2024 veröffentlichten Studie der Bertels-mann Stiftung heißt es, „die Demokratiequalität in Entwicklungs- und Transformationsländern [habe] sich in den vergangenen zwanzig Jahren kontinuierlich verschlechtert. Heute [stünden] […] 63 Demokratien einer Mehrheit von 74 Autokratien gegenüber. […] Am Ende einer konti­nuierlichen Aushöhlung der Demokratie [stünde] in vielen Ländern wie […] der Türkei die au­toritäre Herrschaft.“ Die Inhaftierung von Oppositionellen und Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten in der Türkei war bereits mehrfach Gegenstand von Verfahren vor dem Euro­päischen Gerichtshof für Menschenrechte.

II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest:

  • Als Hüter und Förderer der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und einer über die Europäische Union hinausreichenden Wertegemeinschaft ist der Europa­rat eine herausragende und unentbehrliche Institution in Europa.
  • Der Europarat bietet mit seiner breit angelegten Mitgliedschaft im Kontext einer erneuten Erweiterung der Europäischen Union Anknüpfungspunkte für Kandidatenländer (z. B. Moldau, Ukraine, Nordmazedonien), die aktiv genutzt werden sollten, um den Weg die­ser Länder in die Europäische Union zu unterstützen.
  • Die Europäische Menschenrechtskonvention und die von dem Europarat erarbeiteten Konventionen bilden einen paneuropäischen Rechtsrahmen und sind zentrale Rechts­grundlagen für den effektiven Schutz von Menschenrechten, Demokratie und Rechts­staatlichkeit in Europa.
  • Als Wächter über die Europäische Menschenrechtskonvention und Bewahrer der grund­legenden Rechte des Einzelnen stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die bedeutendste juristische Einrichtung in Europa dar. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind bindend und müssen von allen Mitgliedstaatendes Europarates umgesetzt werden. Die Türkei wird aufgefordert, unrechtmäßig inhaf­tierte Personen umgehend frei zu lassen.
  • Nordrhein-Westfalen bekennt sich zu universellen Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Gewährleistung, der Schutz und die Förderung von Menschen­rechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stellen für das Land Nordrhein-Westfalen zentrale Aufgaben dar. Die Einrichtung und Verstetigung einer Woche der Menschen­rechte, die Etablierung des Demokratie-Brücken-Programms des Landtags und die Ein­führung der Europa-Schecks, die Förderung kommunaler Partnerschaften, die Pflege regionaler Partnerschaften und die intensive grenzüberschreitende Kooperation sowie das Engagement im Kongress der Gemeinden und Regionen Europas des Europarates sind nur einige Beispiele dafür, wie das Land diese Ziele aktiv verfolgt.
  • Die Menschenrechtslage ist weltweit anspannt. Das Engagement des Landes Nordrhein-Westfalen ist daher von besonderer Bedeutung. Es gilt auch, das Wissen um und das Bewusstsein für das Thema Menschenrechte und ihre Bedeutung zu stärken.
  • Der Landtag von Nordrhein-Westfalen begrüßt ausdrücklich das große und vielfältige Engagement der nordrhein-westfälischen Gesellschaft und Kommunen für die Stärkung und den Schutz von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten.
  • Der Landtag beauftragt die Landesregierung, ihren intensiven und vielfältigen politischen Ein­satz für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch weiterhin engagiert fortzu­setzen.