20 Jahre EU-Osterweiterung

Antrag der Fraktionen von CDU und Grünen im Landtag

Portrait Berivan Aymaz 2021

I. Ausgangslage

Am 1. Mai 2004 erlebte die Europäische Union einen historischen Moment. In ihrer bisher größten Erweiterung traten zehn neue Mitgliedstaaten, hauptsächlich aus Mittel- und Osteu­ropa, der Europäischen Union bei, namentlich Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowa­kei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern. Sie wuchs damit auf seinerzeit 25 Mitglieder an und begrüßte rund 75 Millionen neue Unionsbürgerinnen und -bürger. Diese Erweiterung, auch bekannt als EU-Osterweiterung, war ein Meilenstein in der europäischen Integration und markierte das Zusammenwachsen eines Kontinents, der jahrzehntelang durch politische und ideologische Grenzen getrennt war. Heute, zwanzig Jahre nach der EU-Osterweiterung, gilt es, die positiven Auswirkungen dieser historischen Entwicklung zu würdigen.

Die EU-Osterweiterung war eine enorme Herausforderung und gleichzeitig eine einmalige his­torische Chance, die erfolgreich genutzt wurde. Rund 15 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs markierte sie einen weiteren Schritt zur dauerhaften Überwindung der Teilung Eu­ropas. Eine der bedeutendsten Auswirkungen der EU-Osterweiterung war die Förderung von politischer und wirtschaftlicher Stabilität und Frieden in Europa. Die Erfüllung der sogenannten Kopenhagener Kriterien, zu denen das Bekenntnis zu den fundamentalen europäischen Wer­ten (Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union) gehört, ist eine zentrale und zwin­gende Voraussetzung für den Beitritt zur EU. Die Kriterien sorgen dafür, dass sich Staaten im Zuge des Beitrittsverfahrens an die EU-Standards angleichen, bis sie die Beitrittskriterien er­füllen. Durch die Integration in die Europäische Union wurde eine Grundlage geschaffen, die es neuen Mitgliedstaaten ermöglichte, sich politisch weiter zu stabilisieren und eine demokra­tische und rechtsstaatliche Ordnung zu festigen. Die Europäische Union hat dabei geholfen, Reformen in diesen Ländern voranzutreiben und institutionelle Strukturen zu schaffen, die auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und dem Schutz der Menschenrechte basieren. Dadurch wurde ein stabiles Umfeld geschaffen, das Konflikte minimiert und die Grundlage für eine fried­liche Zusammenarbeit legt. Umso besorgniserregender sind Entwicklungen, wenn Staaten fundamentale gemeinsame europäische Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, mehr und mehr untergraben, was bereits zu Spannungen mit der Europäischen Union führte. Darauf hat die Europäische Kommission in jüngerer Vergangenheit richtigerweise mit Vertragsverletzungsverfahren reagiert. Rechtstaatlichkeit ist eines der grundlegenden Prinzipien der Euro­päischen Union, dessen Einhaltung konsequent eingefordert werden muss.

Von ihrem Beitritt zur EU haben alle ehemals kommunistischen EU-Mitgliedstaaten profitiert und in der Folge wirtschaftlich aufgeholt, z. B. durch neue Handelsmöglichkeiten, durch den Zugang zum EU-Binnenmarkt, Investitionen und Fördermittel aus den Strukturfonds der Euro­päischen Union. Ihre Wirtschaftsleistung kommt dem EU-Durchschnitt immer näher, der Le­bensstandard der Menschen steigt. Wirtschaftlich profitiert haben aber nicht nur die neuen Mitgliedstaaten im Zuge der EU-Osterweiterung. Auch den „alten“ Mitgliedstaaten eröffneten sich neue wirtschaftliche Möglichkeiten. In Nordrhein-Westfalen dominiert der Außenhandel mit europäischen Staaten. Unter den Top-20-Ländern bei Einfuhren und Ausfuhren finden sich auch Polen, Tschechien und Ungarn. Die Erweiterung hat somit in ganz Europa mehr Wohl­stand geschaffen.

Die EU-Osterweiterung bedeutete auch eine enorme Bereicherung für die Europäische Union in kultureller Hinsicht. Das Motto der Europäischen Union, „in Vielfalt geeint“, bringt es auf den Punkt: Europa ist vielfältig und diese Vielfalt macht es stark. Gemeinsam setzen sich die Mit­gliedstaaten für Frieden und Wohlstand ein. Ihre verschiedenen Kulturen, Traditionen und Sprachen bereichern den gesamten Kontinent. Wie vielfältig und reich das kulturelle Erbe in Europa ist, darauf wirft auch der von der Europäischen Union jährlich verliehene Titel „Euro­päische Kulturhauptstadt“ ein Schlaglicht. Die Europäische Union hat dabei geholfen, Brücken zwischen Ost und West zu bauen und gleichzeitig Vorurteile abzubauen. In der grenzenlosen EU können Menschen in andere Mitgliedstaaten reisen, dort arbeiten, dort studieren, andere Mitgliedstaaten und ihre Menschen kennenlernen. Unser geeintes Europa lebt, weil Menschen Grenzen überwinden und sich persönlich begegnen können. Der Austausch von Ideen, Werten und Erfahrungen hat dazu beigetragen, ein stärkeres Gefühl der Zusammengehörigkeit inner­halb der Union zu schaffen und die Grundlage für eine gemeinsame europäische Zukunft ge­legt.

Nicht zuletzt hat die EU-Osterweiterung auch dazu beigetragen, die geopolitische Rolle Euro­pas zu stärken. Indem sie die europäische Integration auf eine breitere Basis stellte, konnte die Europäische Union ihrer Stimme in der Welt mehr Gewicht verleihen und als globaler Ak­teur auftreten. EU-Länder, die gemeinsam handeln, gelangen auf der Weltbühne zu wesentlich mehr Einfluss als individuelle Staaten. Die Erweiterung hat dazu beigetragen, die Europäische Union als wichtigen politischen und wirtschaftlichen Akteur zu etablieren und ihre Fähigkeit zur Wahrung und Förderung der Werte, für die sie steht – Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte – in der Welt gestärkt. Die Europäische Union steht jedoch vor großen Herausforderungen. Sie ist sowohl von innen als auch von außen herausgefordert. Sie muss sich gegen Feinde der Demokratie nach innen verteidigen und muss nach außen ihre Rolle verstärkt als eigenständiger und handlungsfähiger geopolitischer Akteur selbstbewusst ausfül­len.

Angesichts des brutalen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine war es ein Fehler der Euro­päischen Union, die lautstark artikulierten Bedenken, vor allem der osteuropäischen EU-Mit­gliedstaaten, in Bezug auf Russland und seine Absichten, nicht ernst zu nehmen. Insbeson­dere im Hinblick auf den Bau der Nord Stream 2 Pipeline zeigten sich diese Länder besorgt über die Energiesicherheit, da sie fürchteten, dass die dadurch entstehende massive Abhän­gigkeit von russischen Energielieferungen durch die neue Pipeline ihre Energieversorgung verwundbar machen könnte. Aus ihrer Sicht könnte der Bau und die Inbetriebnahme Russland in die Lage versetzen durch eine dadurch entstehende Konzentration der Lieferwege unter Umgehung ihres eigenen Staatsgebiets, Energie als politisches Druckmittel einzusetzen. Die jüngere Geschichte hat uns gelehrt, dass diese Befürchtungen eingetreten sind. Die Europäi­sche Union sollte daraus Lehren ziehen und die Stimmen aus Ost- und Mitteleuropa künftig stärker in strategische Überlegungen, unter anderem auch im Rahmen der Östlichen Partner­schaft, einbeziehen. Bereits jetzt ist absehbar, dass der russische Angriffskrieg auf die Ukraine die Machtarchitektur innerhalb der Europäischen Union beeinflusst. Die mittel- und osteuropäischen Staaten werden künftig mit mehr Selbstbewusstsein auftreten, wovon die ge­samte Union profitieren kann. Insbesondere Polen hat geopolitisch enorm an Gewicht gewon­nen. Durch seine lange Grenze zur Ukraine und vor dem Hintergrund des dort geführten völ­kerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs spielt das Land eine zentrale Rolle bei der Siche­rung der NATO-Ostflanke.

Insgesamt haben die letzten zwanzig Jahre seit der EU-Osterweiterung gezeigt, dass diese historische Entwicklung eine der bedeutendsten Phasen in der Geschichte der Europäischen Union war. Die positiven Auswirkungen dieser Erweiterung sind weitreichend und haben dazu beigetragen, Europa zu einem Raum des Friedens, der Stabilität und des Wohlstands zu ma­chen. Es ist wichtig, diese Errungenschaften zu würdigen und sie als Ansporn für die weitere Integration und Entwicklung der Europäischen Union für alle Mitgliedstaaten auf Augenhöhe gewinnbringend zu nutzen.

Nach Beendigung des Kalten Krieges erkannten Polen, Frankreich und Deutschland früh die Wichtigkeit enger und partnerschaftlicher Beziehungen. Der 29. August 1991 markiert die Ge­burtsstunde des sogenannten Weimarer Dreiecks zwischen Polen, Frankreich und Deutsch­land. Diese Verbindung findet sich auf regionaler Ebene in Form des Regionalen Weimarer Dreiecks auch in Nordrhein-Westfalen wieder. Seit 2001 besteht diese regionale Partnerschaft zwischen den Regionen Hauts-de-France (Frankreich), Schlesien (Polen) und Nordrhein-Westfalen. Der Expertenaustausch zum Strukturwandel sowie Kulturprojekte sind wertvolle Formate im Rahmen dieser Partnerschaft. Hervorzuheben ist der jährlich stattfindenden Ju­gendgipfel, bei dem sich Jugendliche aus den Partnerregionen zu aktuellen europäischen The­men austauschen. Diese Form der Zusammenarbeit über Grenzen hinweg ist gelebter euro­päischer Zusammenhalt, den es weiter zu fördern und weiter auszubauen gilt. Gerade für die Jugend liegt die Zukunft in Europa. Diese europäische Zukunft und die europäische Idee gilt es, mit Leben zu füllen.

Die Erweiterung der Europäischen Union ist eine Erfolgsgeschichte. Wenn die Europäische Union zukünftig weiter Richtung Osten wächst, kann das für alle ein Gewinn sein. Die Erwei­terung stärkt uns als Gemeinschaft. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen begrüßt und unter­stützt den Beitrittsprozess von Kandidatenländern wie Ukraine, Moldau und Nordmazedonien. Gleichzeitig ist es von entscheidender Bedeutung, angesichts großer Herausforderungen, not­wendige Reformen einzufordern. Das betrifft insbesondere die Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen unter­streicht die Bedeutung der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien als notwendige Vorausset­zung für einen Beitritt zur Europäischen Union. Alle Kandidatenländer müssen die Kriterien erfüllen.

II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest:

  • Die EU-Osterweiterung vor zwanzig Jahren war ein historischer Schritt und ein Meilen­stein in der Geschichte der europäischen Einigung. Sie ist eine Erfolgsgeschichte, von der die gesamte Europäische Union profitiert.
  • Sie hat das gespaltene Europa wieder vereinigt und zur Stabilisierung von Ländern, die sowohl politisch als auch wirtschaftlich jahrzehntelang unter kommunistischer Zwangs­herrschaft gelitten haben, beigetragen.
  • Die vor 20 Jahren beigetretenen Länder haben zudem spezifische historische Erfahrun­gen gemacht, von denen die Europäische Union und mit ihr Deutschland und auch Nord­rhein-Westfalen in seinen europäischen und internationalen Partnerschaften profitieren können.
  • Der Landtag Nordrhein-Westfalen begrüßt und unterstützt den Beitrittsprozess von Kan­didatenstaaten wie Ukraine, Moldau und Nordmazedonien.
  • Heute wie damals gilt es, in kommenden Erweiterungsrunden die Erfüllung der Kopen­hagener Kriterien sicherzustellen und auch nach einem Beitritt konsequent die Achtung und Umsetzung der fundamentalen Werte der Europäischen Union einzufordern.
  • Vor allem im Rahmen des Regionalen Weimarer Dreiecks arbeitet das Land Nordrhein-Westfalen seit vielen Jahren auf zahlreichen Politikfeldern gemeinsam und vertrauens­voll an der Zukunft Europas.

Der Landtag beauftragt die Landesregierung aus vorhandenen Mitteln,

  • eine Intensivierung der Gespräche mit den mittel- und osteuropäischen (Partner-)Län­dern anzustreben;
  • Nordmazedonien als Partnerland Nordrhein-Westfalens weiter bei der Anbindung an die Europäische Union zu unterstützen;
  • die Vernetzung von Regionen und Städten in Mittel- und Osteuropa mit nordrhein-west­fälischen Städten und Kommunen voranzutreiben;
  • in seiner Europaarbeit das Thema der EU-Osterweiterung verstärkt zu verankern;
  • auch in seinen bilateralen Beziehungen zu Staaten in Mittel- und Osteuropa oder im Westbalkan konsequent auf die Einhaltung der Werte, auf die sich die Europäische Union gründet, insbesondere Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte, zu bestehen und dieses Thema in bilateralen Gesprächen regelmäßig anzusprechen;
  • die guten Beziehungen im Regionalen Weimarer Dreieck fortzusetzen und weiterzuent­wickeln;
  • Ergebnisse des jährlich stattfindenden Jugendgipfels des Regionalen Weimarer Drei­ecks aufzugreifen und im politischen Handeln zu berücksichtigen.