Entschließungsantrag zu dem Antrag „Geplante Neuausrichtung der EU-Kohäsionspolitik nach 2027 – föderale und kommunale Mitgestaltung statt Zentralisierung!”
Antrag der Fraktion der SPD
Drucksache 18/12017
I. Ausgangslage
In den letzten Wochen hat die Debatte um die Neuausrichtung der EU-Strukturpolitik im Rahmen der Vorbereitungen des Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) nach 2027 nicht nur in Brüssel an Fahrt aufgenommen. Nachdem EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen im Sommer 2024 angekündigt hatte, den EU-Haushalt zu reformieren, sind im Herbst konkretere Pläne der EU-Kommission bekannt geworden, die sich aber noch auf Verwaltungsebene befinden.1 Diese Pläne sehen u. a. den Wegfall einzelner Posten des EU-Haushaltsbudgets vor, etwa aus dem Bereich der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik (GAP) und der Kohäsionspolitik. Ziel der EU-Kohäsionspolitik ist es, den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt in der EU zu stärken.
Statt wie bisher eine Vielzahl einzelner Programmpläne in Absprache mit den Regionen aufzulegen, gibt es Überlegungen, u. a. die Förderprogramme der EU-Kohäsionspolitik in einem einzigen nationalen Plan je Mitgliedstaat aufgehen zu lassen. Agrar- und Strukturhilfen würden an die Hauptstädte fließen und von dort aus zentral verwaltet. Das würde für das Land Nordrhein-Westfalen sowie die Regionen und Kommunen fundamentale Änderungen mit sich bringen. Nordrhein-Westfalen könnte die Förderprogramme nicht mehr in der bisherigen Form selbst mitgestalten und verwalten. Die Entscheidungsbefugnisse würden sich auf die nationale und die EU-Ebene verlagern. Auch ist die Rede davon, dass die Bewilligung dieser Gelder an die Erfüllung bestimmter zentral vorgegebener Reformen gekoppelt sein soll, ähnlich dem Mechanismus des Wiederaufbaufonds NextGenerationEU. Die Überlegungen der EU-Kommission bedeuten einen Paradigmenwechsel und stehen im Widerspruch zu dem bewährten dezentralen, regionsbezogenen Ansatz der EU-Kohäsionspolitik.
Auch wenn unstrittig ist, dass der neue MFR fiskalisch zukunftsfähige Antworten auf die neuen multiplen Herausforderungen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten und Regionen geben muss und auch wenn Konsens ist, dass die Förderstruktur auf allen beteiligten Ebenen niedrigschwelliger und verständlicher gestaltet sein muss, hat der skizzierte Paradigmenwechsel bei regionalen und föderalen Akteuren in der ganzen EU, insbesondere in den föderal organisierten EU-Mitgliedsstaaten, die Alarmglocken läuten lassen.
Die Regionalförderung über die Kohäsion macht derzeit mit 392 Milliarden Euro den zweitgrößten Posten im EU-Haushalt aus. Sie sorgt bislang dafür, dass die Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts der EU mit Zielen wie Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Entwicklung gut vereinbar ist. Die Erfahrbarkeit europäischer Politik und die Zielsetzung vor Ort hängt eng mit der föderalen und regionalen Ausgestaltung und Verwendung von EU-Fördermitteln zusammen. Bisher sind die Regionen zentrale Akteure in der EU-Kohäsionspolitik, bei der Verhandlung, Programmierung und Umsetzung von Förderprogrammen. Für eine sinnvolle Mittelverwendung in Kenntnis der Verhältnisse vor Ort und auch für die Akzeptanz in den Regionen ist dies von entscheidender Bedeutung. EU-Kohäsionspolitik und ihre Auswirkungen sind für die Menschen in Nordrhein-Westfalen konkret erfahrbar.
Der europäische Mehrwert der Kohäsionspolitik wird in der Kooperation zwischen Mitgliedstaaten und Regionen in den drei Dimensionen der grenzüberschreitenden, transnationalen und interregionalen Zusammenarbeit besonders deutlich. Daher sollten auch die Programme der Europäischen Territorialen Zusammenarbeit (Interreg) in ihren bestehenden Programmräumen fortgesetzt werden.
Allein in Nordrhein-Westfalen hat die EU in der aktuellen Förderperiode aus dem Topf des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) 1,3 Milliarden Euro, 680 Millionen Euro aus dem Just Transition Fund (JTF)2, 670 Millionen Euro aus den Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) sowie 560 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF+) bereitgestellt, die hier in Nordrhein-Westfalen mit Ko-Finanzierung von Land und Bund sowie von Kommunen und anderen Fördermittelempfängerinnen und -empfängern, wie Unternehmen und sozialen Organisationen, als Investitionen in Transformation, Strukturwandel, sozialen Ausgleich, bessere Ausbildungs- und Berufschancen und die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen ausgeschüttet wurden und werden. Gerade in herausfordernden Zeiten sind diese europäischen Mittel und ihre dezentrale Verteilung von herausragender Bedeutung für das Gelingen einer präventiven und gestaltenden Strukturpolitik, die für mehr sozialen Zusammenhalt, für die Förderung von Innovationen, Digitalisierung, Forschung und mehr Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandortes Nordrhein-Westfalen sorgt.
Dementsprechend besorgt zeigt sich eine breite Allianz kommunaler Akteure vom Städtetag NRW, dem Städte- und Gemeindebund NRW oder dem Regionalverband Ruhr. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat sich frühzeitig klar positioniert und darauf gedrungen, dass sich sowohl die Konferenz der Europaministerinnen und -minister als auch die Konferenz der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten klar positionieren und dass die Länder gemeinsam mit dem Bund eine Stellungnahme3 zu der EU-Kohäsionspolitik nach 2027 an die EU-Kommission senden. Darin wird den Zentralisierungsplänen der EU-Kommission eine klare Absage erteilt und deutlich gemacht, dass die Strukturprinzipien der Kohäsionspolitik – der regions- bzw. ortsbezogene Ansatz, das Mehrebenensystem, die geteilte Mittelverwaltung und das Partnerschaftsprinzip – beibehalten werden müssen. Zudem muss die Kohäsionspolitik in allen Regionen fortgeführt werden. Auch auf EU-Ebene gibt es deutliche Stellungnahmen gegen die Zentralisierungstendenzen. Dies zeigt z.B. ein Forderungspapier von 74 europäischen Regionen, das auf Initiative des Freistaats Bayern am 20. November 2024 zustande gekommen ist und die EU-Kommission auffordert, die Regionen auch in Zukunft aktiv in die Gestaltung der Förderpolitik einzubinden.4 Auch hier hat die Landesregierung Nordrhein-Westfalen als Mitunterzeichnerin ihre Haltung deutlich kommuniziert.
Die Fraktionen der CDU, der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP im Landtag Nordrhein-Westfalen unterstützen ausdrücklich diese klare Positionierung.
II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest, dass
- die Regionen in der EU, darunter das Land Nordrhein-Westfalen, aber auch die Kommunen nicht von Mitgestalterinnen und Mitgestaltern zu bloßen Umsetzerinnen und Umsetzern oder Empfängerinnen und Empfängern werden dürfen. Dies würde den Verlust regionaler Expertise, die Abkehr vom Subsidiaritätsprinzip und der Partnerschaft zwischen Regionen und EU-Kommission bedeuten. EU-geförderte Projekte vor Ort sind ein wichtiger Anknüpfungspunkt von Bürgerinnen und Bürgern zur Identifikation mit dem europäischen Projekt. Dieser lokale Bezug und die konkrete Erfahrbarkeit sind wichtig für die Sichtbarkeit der EU im Alltag der Menschen. Eine potenzielle Nationalisierung von EU-Geldern birgt außerdem die Gefahr, dass die Mittel zwischen den Sektorenzielen einfacher übertragen werden können und somit in nationalen Förderinstrumenten “verschwinden” oder zur akuten Krisenbewältigung “zweckentfremdet”, statt in langfristig angelegten Investitionsprogrammen unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten umgesetzt werden. Auch muss die parlamentarische Kontrolle über die Mittelvergabe gewahrt bleiben.
- erfolgreiche europäische Integration nur gelingen kann, wenn die Ziele der Kohäsionspolitik an die neuen Herausforderungen angepasst werden und weiterhin alle Regionen eine Förderung bekommen können. Ebenso muss der EU-Kofinanzierungssatz angehoben werden. Die Fördermittel müssen in den Regionen verwaltet werden. Maßgeschneiderte Lösungen von der Stange gibt es für die Vielfalt der Regionen und die unterschiedlichen Herausforderungen nicht.
- Interreg entscheidend zu einem guten und vertrauensvollen Zusammenleben über Staatsgrenzen hinweg beiträgt und eine hohe Symbolkraft für die europäische Idee hat. Eine etwaige an nationale Reformziele geknüpfte Mittelsteuerung würde den Aufgaben der Europäischen Territorialen Zusammenarbeit nicht gerecht.
- die EU-Kommission zwar mit jeder Förderperiode Vereinfachungen für die EU-Programme in Aussicht stellt, gleichzeitig aber neue Berichtspflichten und Prüfvorgaben einführt, die Erleichterungen an anderer Stelle konterkarieren. Dadurch ist ein Regelwerk entstanden, das die bewilligenden Stellen kaum mehr durchdringen und potenzielle An-tragstellende abschreckt. Eine Zentralisierung würde die EU-Kohäsionspolitik noch weiter von ihren Nutzerinnen und Nutzern in den Regionen entfremden.
Der Landtag beauftragt die Landesregierung aus vorhandenen Mitteln,
- sich weiterhin auf nationaler und EU-Ebene für eine regional verankerte Vergabepraxis und gegen Zentralisierungspläne der EU-Kommission für den MFR nach 2027 einzusetzen, insbesondere mit Blick auf die für Nordrhein-Westfalen besonders relevanten EU-Fördermittel. Der regionale bzw. ortsbezogene Ansatz, die geteilte Mittelverwaltung, das Mehrebenensystem und das Partnerschaftsprinzip sollen als Kernprinzipien der Kohäsi-onspolitik erhalten bleiben.
- sich weiterhin für eine starke EU-Kohäsionspolitik nach 2027 mit auskömmlichen Förderprogrammen in vergleichbarer Höhe, die unter vollumfänglicher und frühzeitiger Einbeziehung der regionalen Ebene entwickelt und umgesetzt werden, einzusetzen.
- sich weiter für eine Stärkung der länderübergreifenden Nutzung der Kohäsionspolitik im Allgemeinen einzusetzen, zum Beispiel durch einen höheren EU-Kofinanzierungssatz für die Nutzung der Kohäsionspolitik für Zusammenarbeit über Grenzen hinweg.
- sich für eine schlanke, einfache Umsetzung der EU-Kohäsionsförderung auf allen Ebenen einzusetzen, die es auch kleinen Unternehmen und kleinen Kommunen ermöglicht, von EU-Fördermitteln zu profitieren. Dazu sind auf das Wesentliche reduzierte, verständliche Regelungen und keine Zentralisierung nötig.
1 Vgl. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mehr-wirtschaft/die-eu-kommission-plant-einen-radikalen-umbau-des-haushalts-110029301.html oder https://www.politico.eu/article/european-commission-budget-economic-reforms-conditions-power-grab/, letzter Zugriff am 28.11.2024.
2 Gesamte JTF-Mittel für EFRE und ESF+.
3 Vgl. https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/Stellungnahmen/stellungnahme-kohaesionspoli-tik-der-eu-nach-2027.pdf? blob=publicationFile&v=12, letzter Zugriff am 10.02.2025
4 Vgl. https://www.iledefrance-europe.eu/fileadmin/user_upload/For_a_modern_choesion_policy_SIG-NED_20-11-2024.pdf, letzter Zugriff am 29.11.2024.