Wibke Brems: „Es ist also schäbig, wenn Kinder mit Migrationsgeschichte als Sündenböcke herhalten müssen“

Zur Aktuellen Stunde auf Anträgen der SPD-, der FDP- und der "AfD"-Fraktion zur "PISA-Studie"

Portrait Wibke Brems 5-23

Wibke Brems (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir wollen, dass Kinder und Jugendliche ihre eigene Zukunft gestalten können. Dafür müssen ihnen die entsprechenden Kompetenzen an die Hand gegeben werden. Neben dem Vermitteln von Wissen und der Anwendung dieses Wissens auf die Wirklichkeit ist es wichtig, dass sich Kinder kritisch mit der Welt auseinandersetzen und lernen, die Welt zu hinterfragen, Probleme zu benennen und eigene Standpunkte zu entwickeln. Deshalb ist ein Bildungssystem wichtig, das Kindern und Jugendlichen genau das ermöglicht. So weit die Theorie.

Die Praxis ist in den Schulen dann aber von ganz anderen Herausforderungen und Anforderungen an Schule geprägt. Unser Schulsystem hängt leider vielerorts immer noch an einem alten, heilen Familienbild fest. In diesem heilen Familienbild kommen morgens alle Kinder mit vollem Magen und gut versorgt in die Schule. Mittags wartet ein Elternteil – meist die Mama – mit einem warmen Essen und begleitet sie bei den Hausarbeiten. Aber dieses Bild hat sich heutzutage verändert.

Frau Müller-Rech, Sie haben eben gesagt: Was uns damals mit der Mehrgliedrigkeit groß gemacht hat, ist doch alles gut. Ich sage Ihnen ganz klar: Was damals gewirkt hat, kann man Jahrzehnte später schon mal hinterfragen. Damals dachte man nämlich auch, dass Atomkraft unser Energieproblem lösen würde.

(Beifall von den GRÜNEN – Zurufe von der AfD)

– Ich weiß, dass manche hier im Raum immer noch meinen, dass Atomkraft unser Energieproblem löst. Aber das zeigt eben auch, wo man hängen geblieben ist.

Der seit Jahrzehnten vollzogene gesellschaftliche Wandel mit zwei berufstätigen Elternteilen, mit Arbeit und Sorgen beschäftigten, manchmal auch überforderten Eltern, Sprachbarrieren, Traumata durch Flucht oder, oder – das alles passt nicht mehr zu einem tradierten Schulsystem.

Hinzu kommen volle Lehrpläne, leere Stundentafeln, weil Lehrkräfte fehlen, und verschlafene Digitalisierung von Schulen, Lehrplänen und Unterricht. Zu all diesen Herausforderungen kam vor einigen Jahren die Coronapandemie obendrauf und offenbarte die Probleme und Versäumnisse noch einmal mehr.

Die Anforderungen, die heute an Schule gestellt werden, können von Lehrerinnen und Lehrern kaum erfüllt werden, wenn im Lehrplan und im System alles so bleibt, wie es früher war. Deswegen habe ich höchsten Respekt vor den Lehrerinnen und Lehrern, die jeden Tag für ihre Schülerinnen einstehen, ihnen Wissen näherbringen, ihre Probleme ernst nehmen und sie für ihre Zukunft möglichst gut wappnen wollen. Von daher ist es auch so wichtig, dass wir denjenigen, die tagein und tagaus für eine gute Zukunft unserer Kinder sorgen, danken und beispielsweise mit guten Tarifabschlüssen und gleichwertiger Bezahlung Wertschätzung entgegenbringen.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Ich habe die Herausforderungen beschrieben; einige der Vorredner haben das ebenfalls getan. Die Forderung der Opposition nach mehr Lehrerinnen, mehr Geld klingt erst mal verlockend. „Sondervermögen“ und „Investitionspakete“ sind dann gern genommene Zauberwörter. Aber das Verfassungsgericht hat ja bereits deutlich gemacht: So einfach ist das alles nicht. – Und der neue SPD-Vorschlag der kurzfristigen Finanzierung über die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse hilft auch nicht bei dieser großen Daueraufgabe, die vor uns liegt.

Ich sage Ihnen ganz klar, Herr Ott: Die pinke Brille aufzusetzen, das reicht halt nicht. Man muss schon schwarze Zahlen schreiben, um auf einen grünen Zweig zu kommen.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Jochen Ott [SPD]: Da habt ihr aber lange dran gearbeitet! – Weitere Zurufe von der SPD)

Dass Deutschland insgesamt in den drei Kompetenzbereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen deutlich schlechter abschneidet als zuvor, ist alles andere als gut, und der Abwärtstrend ist besorgniserregend. Bildung hängt in Deutschland immer noch zu stark vom Geldbeutel der Eltern und ihrer Postleitzahl ab. Das ist übrigens leider in ganz Deutschland so.

Wenn man den Vorrednern von SPD und FDP zuhört, möchte man ja meinen, NRW sei ein ganz besonders schlimmer Ort für Schüler*innen in Deutschland. Aber zur Klarstellung: Die PISA-Ergebnisse sind nicht bundesländerspezifisch, und die heute geäußerte Besorgnis

(Zurufe von der SPD)

sollte für ganz Deutschland gelten, egal, welche Farbe eine Landesregierung oder eine Bildungsministerin hat.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Zurufe von der SPD)

Um darüber zu sprechen, welche Konsequenzen aus der PISA-Studie zu ziehen sind, muss man sich die Studie und das, was und wie getestet wird, schon genau anschauen. Getestet werden Kompetenzen und nicht Wissen, getestet wird hauptsächlich mit Multiple Choice, und PISA testet viele Dinge nicht, zum Beispiel die politische Bildung, sprachliches Ausdrucksvermögen, Geographie, Geschichte, Digitalisierung oder die Kreativität eines Kindes. Die PISA-Studie gibt also kein ganzheitliches Bild, wie ich es am Anfang beschrieben habe und wie es uns in Deutschland im Allgemeinen wichtig ist, ganz im Gegensatz zu manchen OECD-Ländern an der Spitze des PISA-Rankings. Das sollten wir trotz notwendiger Alarmierung ob der Ergebnisse beachten.

Und um auch damit aufzuräumen: Schuld an den PISA-Ergebnissen ist nicht die starke Zuwanderung. PISA zeigt eindeutig, dass andere Einwanderungsländer besser abschneiden.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Ich bin da vollkommen beim Ministerpräsidenten: Es sind alles unsere Kinder. – Diesem Hass geben wir hier keine Chance.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und Volkan Baran [SPD])

Was also tun angesichts der großen Herausforderungen? Bisher hat es leider noch keine politische Farbkonstellation in keinem Bundesland geschafft, die Systemfrage zu stellen bzw. anzugehen. Wir wären gut beraten, wenn wir uns im internationalen Vergleich an Ländern orientieren, die ihren PISA-Schock überwunden haben. Das erfordert viel Mut von allen Seiten, und es wird Jahre bis Jahrzehnte dauern.

Die Herausforderungen sind groß; das haben wir heute gehört. Es ist einfach, mit dem Finger auf eine aktuelle Regierung oder eine aktuelle Bildungsministerin zu zeigen und dabei auszublenden, wer davor noch alles verantwortlich für so manche Entwicklung war. Das finde ich nicht redlich.

Dieser PISA-Schock darf weder zu einer Schockstarre noch zu hektischer Betriebsamkeit führen. Wir brauchen wirklich nachhaltige Lösungen über Legislaturperioden hinweg für die Zukunft und die Chancen aller Kinder in diesem Land.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

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