I. Ausgangslage
Die Verfügbarkeit von Fach- und Arbeitskräften wird in den kommenden Jahren einer der entscheidenden Wettbewerbsfaktoren für den Erfolg von Wirtschaftsräumen sein. Die Fakten liegen auf dem Tisch, wir haben daher kein Erkenntnisdefizit. Selbst wenn es uns gelingen sollte, alle inländischen Arbeitsmarktpotenziale zu heben, werden wir ohne Fach- und Arbeitskräfte aus dem Ausland das Niveau unseres Wohlstandes und die Breite unseres Dienstleistungsangebots nicht halten können. Zum bestehenden Arbeits- und Fachkräfteengpass in den unterschiedlichsten Branchen in Nordrhein-Westfalen führte der Landtag am 1. Februar 2023 eine große Anhörung durch.
Die Zukunftskoalition von CDU und GRÜNEN hat sich verpflichtet, die Impulse der geladenen Sachverständigen in einer interministeriellen Arbeitsgruppe mit dem Ziel einer kohärenten Arbeits- und Fachkräftestrategie für Nordrhein-Westfalen aufzugreifen. Um den bestehenden Ar-beits- und Fachkräftebedarf zu decken, bedarf es einer kohärenten Strategie, die die Arbeitskräftepotenziale aller Personengruppen bei uns in NRW identifiziert und fördert. Dazu gehören Schülerinnen und Schüler, Schulabgängerinnen und -gänger, (Langzeit-)Arbeitslose, Menschen mit Behinderungen und Geflüchtete und Geduldete. Gleichermaßen sind auf Bundesebene weitere Erleichterungen bei der Arbeits- und Fachkräfteeinwanderung notwendig, um Karrierechancen für potenzielle ausländische Arbeits- und Fachkräfte zu ermöglichen.
Die nordrhein-westfälische Wirtschaft und Gesellschaft sind auf Arbeits- und Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen – dies schließt sowohl bereits hier lebende Menschen mit Einwanderungsgeschichte als auch potenzielle Neuzuwandernde ein. Wir stehen dabei in einem Wettbewerb mit anderen Regionen. Ein professionelles Recruiting von Fachkräften, nicht nur für Engpassberufe, im Ausland ist daher notwendig. Wir wollen dafür Arbeitgeber, Kammern und Verbände stärker miteinander vernetzen. Recruiting und Vernetzung sollen zentral in der Landesregierung gebündelt werden. Gleichzeitig wollen wir die Anerkennungsstrukturen für bereits in Nordrhein-Westfalen lebende Menschen mit Migrationsgeschichte verbessern.
Wir brauchen ausländische Arbeits- und Fachkräfte sowie Nachwuchskräfte, denen schnell und einfach die Einreise mit dem Ziel der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglicht wird. Über die Voraussetzungen informiert die Zentralstelle Fachkräfteeinwanderung zwar bereits Arbeitgeber und (potenzielle) Arbeitnehmerinnen und -nehmer. Zentral ist jedoch, die Stelle auch für internationale Arbeits- und Fachkräfte niedrigschwellig und mehrsprachig zu gestalten. Hier gilt es, die Homepage so zu gestalten, dass sie möglichst viele Menschen schnell und einfach erreicht. In der Heimat erworbene Ausbildungen müssen bei uns unbürokratischer und schneller anerkannt werden; das gilt auch für reglementierte Berufe. Wir stellen dabei berufsspezifische deutsche Standards nicht infrage. Hierfür sind sowohl die Kapazitäten in den Auslandsvertretungen des Bundes als auch in den zuständigen nordrhein-westfälischen Behörden von großer Bedeutung.
Vom Fachkräftemangel besonders betroffene Berufe wie Lehrkräfte, Ingenieurinnen und Ingenieure, Sozialpädagoginnen und -pädagogen, Gesundheits- und Krankenpflegepersonal sowie Erzieherinnen und Erzieher fallen bereits unter das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz des Landes (BQFG NRW). Im Jahr 2021 wurden in Nordrhein-Westfalen insgesamt 10.518 Anträge auf Feststellung der Berufsqualifikation bearbeitet. Insbesondere waren es 7.224 Anerkennungsverfahren (68,7 %) für die Anerkennung in medizinischen Gesundheitsberufen. In allen übrigen Berufen wurden 3.294 Verfahren bearbeitet (31,3 %). Bei den Handwerkskammern waren es 810 Verfahren, bei den Industrie- und Handelskammern 609 Verfahren.
Laut Statistischem Bundesamt belief sich die Anzahl der Zugewanderten nach Nordrhein-Westfalen allein in 2021 auf 257.874 Personen, was bundesweit die größte Anzahl darstellt. Das Verhältnis der Zahl der Zugewanderten im Vergleich zur Anzahl der Berufsanerkennungen unterstreicht: Nordrhein-Westfalen nutzt die Potenziale der eingewanderten Menschen nicht genug. Es liegt nahe, dass viele Personen ihre Berufsqualifikation gar nicht anerkennen lassen und somit Tätigkeiten ausüben, die unterhalb ihrer tatsächlichen Qualifikation liegen. Dies wurde auch in der oben genannten Anhörung thematisiert.
Zwar ist es nicht zwingend notwendig, ein Anerkennungsverfahren zu durchlaufen, wenn es sich bei der Tätigkeit um einen nicht reglementierten Beruf handelt, der ohne formalen Abschluss ausgeübt werden kann. Eine Berufsanerkennung ist aber auch in nicht reglementierten Berufen von hoher Bedeutung, weil sie die vorhandenen Potenziale der Menschen sichtbar macht, ihnen zu besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt verhilft und dadurch zur sozialen Absicherung beiträgt.
Deshalb stehen auch die Handwerkskammern sowie die Industrie- und Handelskammern in der Verantwortung, die Fähigkeiten und Qualifikationen der Menschen in nicht reglementierten Berufen sichtbarer zu machen. Es gilt, Beschäftigte besser über die Möglichkeiten einer Berufsanerkennung zu informieren, sie während des gesamten Bearbeitungsprozesses zu unterstützen und die Antragsbearbeitung so effizient wie möglich zu gestalten. Wenn Antragsverfahren durch Zentralisierung, Bündelung von Zuständigkeiten sowie die Digitalisierung des Antragsverfahrens beschleunigt werden, senkt das die Hürden für eine Antragstellung. Ziel muss sein, dass deutlich mehr Anerkennungsverfahren in den Bereichen von Handwerk und Industrie stattfinden.
Im Bereich der Anerkennung von ausländischen Bildungs- und Berufsabschlüssen wurde im Rahmen der oben genannten Anhörung zudem deutlich, dass nach wie vor ein großer Verbesserungsbedarf bei der Organisation der Anerkennungsverfahren besteht. Der gesamte Anerkennungsprozess dauert zu lange. Es liegt nahe, dass die einzelnen Schritte der Anerkennungsverfahren besser ineinandergreifen müssen. Antragstellung, das formale Bewertungsverfahren und anschließende Nachqualifizierungsschritte müssen besser aufeinander abgestimmt werden. Das Stadium der Bearbeitung muss in jedem Moment nachvollziehbar und überprüfbar sein. Studien kommen zum Schluss, dass die Undurchsichtigkeit, welche Stelle für welche Belange zuständig ist, im Zweifel zu Mehraufwand bei den Behörden führt. Hier gilt es, Mehraufwand zu identifizieren und klare Behördenwege mit transparenten und zeitnahen Rückmeldungen an Antragsstellende aufzuzeigen.
Wer langfristig in Deutschland leben möchte, soll mit seinen Fähigkeiten einen einfachen und schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen. Dafür ist eine klar strukturierte Berufsorientierung zeitnah nach der Ankunft in Deutschland notwendig. Diese soll sich an den vorhandenen Kompetenzen orientieren und notwendige Anpassungsqualifizierungen mit einschließen. Bereits in den Landesunterbringungseinrichtungen sollen zukünftig datenschutzgerecht berufliche Qualifikationen und Erfahrungen erhoben werden, mit denen Geflüchtete in eine passende Tätigkeit in der aufnehmenden Kommune vermittelt werden können.
Das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) vertritt zudem die Auffassung, dass Menschen mit Zuwanderungsgeschichte bei der Suche nach einer geeigneten Arbeitsstelle, die ihren Qualifikationen entspricht, benachteiligt werden oder anstatt einer qualifizierenden Ausbildung eher Helfertätigkeiten annehmen. Gerade bei geflüchteten Frauen verlaufe die Erwerbsbeteiligung bei gleicher Qualifikation erheblich schleppender als bei Männern. Dabei könnten die schlechte Verfügbarkeit oder die geringe Nutzung von Kinderbetreuungsangeboten, diskriminierende Erfahrungen durch Arbeitgeber oder Probleme innerhalb der Arbeitsförderungen durch Arbeitsagenturen oder Jobcenter eine Rolle spielen.
Neben diesen Problematiken müssen auch Gründe betrachtet werden, warum Zugewanderte, die sich bereits im deutschen Arbeitsmarkt etabliert haben, doch dafür entscheiden, Deutschland zu verlassen und wieder abzuwandern. Wie eine neue Studie des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) und des SOKO Instituts im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit (BA) im Rahmen einer Befragung herausfand, führen weit mehr als 20 % ihre Abwanderung auf aufenthaltsrechtliche Gründe zurück, 15 % auf Arbeitslosigkeit oder Beschäftigungsende und fast 15 % begründen ihre Entscheidung damit, dass sie sich nicht wohlfühlen. Weitere Gründe können ein nichtrealisierbarer Familiennachzug, zu teure Wohn- und Lebenshaltungskosten, Diskriminierungserfahrungen oder die Angabe sein, dass von vornerein nur ein vorübergehender Aufenthalt in Deutschland geplant war.
Wir begrüßen es nicht nur, wenn Menschen aus dem Ausland zu uns kommen und ihr berufliches und persönliches Glück in Nordrhein-Westfalen suchen. Vielmehr sind wir in der Pflicht für Rahmenbedingungen zu sorgen, die Karrieren ermöglichen. Wir sind aber auch in der Pflicht, die Abschlüsse im Anerkennungsverfahren eingehend und sorgfältig zu prüfen.
Abschlüsse, Kompetenzen und Talente sind ein Potenzial, das wir für Nordrhein-Westfalen dringend brauchen. Es kommt darauf an, dass sie überprüfbar vorhanden sind und Anerkennungsmöglichkeiten umfangreich genutzt werden. Neben der Verschlankung von formalen Verfahren ist es daher von besonderer Wichtigkeit, dass Verfahren auf den Weg gebracht werden, in denen formell und informell erworbene Kompetenzen niedrigschwellig sichtbar und nutzbar gemacht werden. Eine gelebte Willkommenskultur in unserer Gesellschaft kann hierbei helfen, dass die Arbeits- und Fachkräfte sich für einen dauerhaften Verbleib in Deutschland aussprechen.
II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest:
- Nordrhein-Westfalen ist ein Einwanderungsland. Vielfalt und Zuwanderung sind ein Gewinn für unsere Gesellschaft und tragen nicht zuletzt auch zu der Bekämpfung von Fach-und Arbeitskräftemangel bei.
- Die Potenziale von Geflüchteten und Menschen mit Einwanderungsgeschichte werden noch nicht voll ausgeschöpft.
- Auf Bundes- und Landesebene müssen Anstrengungen intensiviert werden, Zuwanderung von Fachkräften und Anerkennungen ausländischer Berufsqualifikationen zu Dazu gehört insbesondere eine weitere Vereinheitlichung der rechtlichen Rahmenbedingungen.
- Um faire Chancen zu ermöglichen, müssen Verfahren auf den Weg gebracht werden, in denen formell und informell erworbene Kompetenzen niedrigschwellig sichtbar und nutzbar gemacht werden.
- Eine echte Willkommenskultur ist unerlässlich, um die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland weiter zu steigern und qualifizierte Arbeits- und Fachkräfte aus aller Welt anzuziehen.
Der Landtag beauftragt die Landesregierung, im Rahmen vorhandener Mittel ressortübergreifend Sofortmaßnahmen zu ergreifen und eine kohärente Gesamtstrategie zu entwickeln, die bei der Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen für die unterschiedlichen Personengruppen folgende Themenschwerpunkte berücksichtigt:
- die Weiterentwicklung und Förderung der Zentralstelle Fachkräfteeinwanderung in Bonn mit Blick auf die verstärkte Einwanderung aus dem Ausland zu prüfen. Es gilt, sie so auszugestalten, dass sie niedrigschwellig und mehrsprachig über die einzelnen Schritte für die Durchführung eines Anerkennungsverfahrens in Nordrhein-Westfalen informiert. Ferner soll sie Prozesse kundennah begleiten und eindeutig an zuständige Stellen vermitteln sowie Daten zu Anerkennungsverfahren erheben und verarbeiten. Darüber hinaus ist die Personalausstattung in den Anerkennungsstellen zu evaluieren und dem Anforderungsbedarf anzupassen;
- nach Möglichkeit bereits in Unterbringungseinrichtungen des Landes gemeinsam mit der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit frühzeitiger datenschutzgerecht Details zu Arbeits- und Berufserfahrungen von Geflüchteten zu erfassen, um den Prozess der Arbeitsvermittlung zu starten und Anerkennungsverfahren anzustoßen, die dann in den Zuweisungskommunen fortgesetzt werden können;
- die Berufsanerkennungsverfahren im Zuständigkeitsbereich des Landes Nordrhein-Westfalen auf Sofortmaßnahmen zu überprüfen, die Verfahren zu vereinfachen, vollständig zu digitalisieren, unnötige bürokratische Hürden abzubauen und sicherzustellen, dass der Anerkennungsprozess zugunsten der antragstellenden Personen interpretiert und gelebt wird. Dazu gehört auch, bei laufenden Verfahren Transparenz über den aktuellen Stand des Verfahrens herzustellen;
- gegenüber den für Berufsanerkennung zuständigen Kammern darauf hinzuwirken, mehr Menschen zu motivieren, ihre beruflichen Qualifikationen anerkennen zu lassen. Die Zahl der Berufsanerkennungen im Bereich der Kammern muss deutlich erhöht werden;
- in Kooperation mit den Kammern, der Bundesagentur für Arbeit und den sozialen Trägern die fehlenden Qualifikationen der Zugewanderten zu ermitteln und abschlussorientierte Fortbildungsmaßnahmen zur Anerkennung der Berufe zu ermöglichen. Bestehende Projekte, die informelle Qualifikationen identifizieren und validieren, auszuweiten. Sowie gemeinsam mit der Wirtschaft Verfahren zu entwickeln, in denen formell und informell erworbene Kompetenzen niedrigschwellig sichtbar und nutzbar gemacht werden und dabei an bereits bestehende Angebote anzuknüpfen;
- verstärkt mit Jobcentern, Arbeitsagenturen und kommunalen Integrationsstrukturen vor Ort zusammenzuarbeiten, um neben der zentralen Informations- und Servicestelle ganzheitlich über Möglichkeiten der Berufsanerkennung, der Anerkennung informeller Qualifikationen und Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten zu beraten;
- die zentralen Homepages und Dokumente der Landesregierung und der Bezirksregierungen, auf denen sich Zugewanderte zu Anerkennungsverfahren und Einwanderungsbestimmungen informieren können, mehrsprachig zu gestalten, und leicht auffindbar zu platzieren;
- die Rahmenbedingungen zu identifizieren, die auf Bundes- und Landesebene die Zuwanderung von Menschen aus dem Ausland verhindern oder erschweren und so einen schnellen Weg in den Arbeitsmarkt hemmen;
- einen Prozess zu initiieren, der die Vereinheitlichung der rechtlichen Rahmenbedingungen innerhalb der verschiedenen Berufsanerkennungsverfahren noch stärker in den Vordergrund stellt und einheitliche Maßstäbe berücksichtigt, die zudem die sehr unterschiedlichen Referenzberufe in den Blick nimmt;
- gemeinsam mit den arbeitsmarkpolitischen Akteuren Maßnahmen zu entwickeln, wie insbesondere Frauen mit Zuwanderungs- bzw. Fluchtgeschichte der Zugang zum Aus-bildungs- und Arbeitsmarkt erleichtert werden kann;
- in Nordrhein-Westfalen die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass neue bundesgesetzliche Möglichkeiten und Initiativen, wie sie sich beispielsweise aus der angestrebten Novellierung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes ergeben, schnell und effektiv genutzt werden können.