Impfstoffe müssen schnellstmöglich produziert und gerecht verteilen werden: Patent-und Eigentumsrechte zeitweilig aussetzen

Antrag der GRÜNEN im Landtag

Portrait Berivan Aymaz 2021

I. Ausgangslage

Die Corona-Pandemie ist eine globale Gesundheitskrise. Schon früh wurde deutlich, dass sie nur durch internationale Kooperation und Solidarität zu bewältigen sein würde. Das begann mit der grenzüberschreitenden Versorgung von schweren Covid-19-Fällen und erstreckt sich mittlerweile u.a. auf die Beschaffung und Verteilung von Impfstoff. Die EU setzte dabei auf gemeinsame Bestellungen von Impfdosen für die gesamte Union, um sogenannten Impfnati­onalismus zu verhindern, bei dem jeder Mitgliedsstaat selbst für die Versorgung der eigenen Bevölkerung mit Vakzinen zuständig gewesen und unweigerlich mit den anderen in einen Kon­kurrenzkampf getreten wäre. Mit dem Vorgehen der EU-Kommission konnte die innereuropäische Solidarität gewahrt werden.

Auf globaler Ebene allerdings sorgt die EU nicht für eine faire und zügige Verteilung. Sie und andere reiche Industrieländer haben sich den Großteil der weltweit verfügbaren Impfdosen direkt bei den Herstellern gesichert und versuchen mit Ausfuhrkontrollen möglichst viel Impf­stoff für die eigene Bevölkerung einzubehalten. Die reichen Staaten, die 16 % der weltweiten Bevölkerung repräsentieren, haben sich so den Zugriff auf mindestens 70 % der verfügbaren Impfstoffmenge gesichert.1 Länder im globalen Süden gehen oftmals leer aus, weil sie sich die hohen Preise der Herstellerfirmen nicht leisten können und nicht über eigene Produktionsstan­dorte verfügen. Bis heute wurde dabei ganz offensichtlich nicht dafür gesorgt, dass es weltweit ein hohes Tempo bei der Herstellung, Verteilung und Verimpfung der Vakzine gibt.

Diese mangelnde Solidarität der EU mit ärmeren Staaten sendet ein fatales Signal in die Welt und bietet autokratisch regierten Ländern wie beispielsweise Russland die Gelegenheit, sich über eigene Impfstofflieferungen Einfluss zu verschaffen. Dabei wäre die Versorgung des glo­balen Südens nicht nur aus Gründen der Humanität und Solidarität zwingend geboten, son­dern auch um die Ziele der eigenen Impfbemühungen nicht zu unterwandern. Eine vollständig immunisierte Bevölkerung in Europa nützt wenig, wenn das Virus sich mangels Impfschutz in anderen Ländern weiter ausbreitet, dort mutiert und als Variante wieder in Europa einge­schleppt wird, gegen die die jetzigen Impfstoffe wirkungslos sind.

II. Patente zur Produktion von COVID-19-Impfstoff müssen freigegeben werden

Am schnellsten könnte diesem Problem begegnet werden, wenn man die Produktionskapazi­täten für Impfstoffe weltweit massiv ausweiten würde. Dem stehen zur Zeit Patent- und Eigen­tumsrechte der Entwicklerfirmen entgegen. Es gibt jedoch vielversprechende Ansätze, die dazu geeignet wären, diese Rechte zeitweilig aufzuheben, um eine Impfstoffproduktion an deutlich mehr Standorten auf der ganzen Welt zu ermöglichen.

Auf internationaler Ebene könnte ein sogenannter TRIPS-Waiver genutzt werden, um die Ei­gentumsrechte der Herstellerfirmen für alle Covid-19-Technologien (d.h. alle Produkte zur Di­agnose, Vorbeugung und Behandlung von Covid-19) auszusetzen, bis ein Großteil der Welt­bevölkerung immunisiert wäre. Einen entsprechenden Antrag haben Indien und Südafrika be­reits im vergangenen Herbst bei der Welthandelsorganisation (WTO) eingereicht.2 Dieser fand eine breite zivilgesellschaftliche Unterstützung von mehreren Hundert Nichtregierungsorganisationen, jedoch bislang nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit im TRIPS-Council der WTO.

Diese Mehrheit scheint nach den neuesten Meldungen aus den USA nun erreichbar zu sein. Die USA unterstützen inzwischen die Bemühungen, die Patente freizugeben.3 Nach zunächst positiven Signalen aus der EU, sperrt diese sich wieder dagegen, das für die Impfstoffproduktion erforderliche Wissen zu einem globalen öffentlichen Gut zu erklären.4 Dabei verkennt sie jedoch, dass die Herstellerfirmen den Impfstoff-Entwicklungsprozess nicht ausschließlich aus eigener Tasche und auf eigenes Risiko bezahlt haben, sondern dass in erheblichem Umfang Steuergelder in diese Prozesse geflossen sind. Deshalb sind die entwickelten Impfstoffe auch ein öffentliches Gut.

Die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten müssen ihre Blockade aufgeben und die Eigen­tumsrechte der Herstellerfirmen gegen angemessene Entschädigungszahlungen zeitweilig aussetzen. Sollte dies im Rahmen der WTO nicht gelingen, bleibt weiterhin der von Ratsprä­sident Charles Michel aufgezeigte Alternativweg, den die EU in diesem Fall beschreiten könnte.5 Nach Auffassung von Rechtsexpertinnen und -experten könnte der Notfall-Artikel 122 des EU-Vertrags dahingehend ausgelegt werden, die Freigabe von Impfstofflizenzen zu er­möglichen. Auch in diesem Fall müssten die Herstellerfirmen für die Preisgabe ihrer Ge­schäftsgeheimnisse entschädigt werden. Die Kosten dafür dürften jedoch weit unter denen liegen, die durch eine weitere unkontrollierte Ausbreitung des Virus und durch die Unterminie­rung der laufenden Impfanstrengungen durch Virusmutanten verursacht würden.

Die Landesregierung muss sich nun schnellstmöglich auf Bundes- und EU-Ebene für eine zeitnahe Patentfreigabe einsetzen. Ministerpräsident und CDU-Bundesvorsitzender Armin La­schet muss hier seinen Einfluss geltend machen und insbesondere auf Bundeskanzlerin Merkel einwirken, damit diese von ihrer Blockadehaltung abrückt. Denn nur wenn Deutschland sich als bedeutender Pharmastandort und größtes Mitgliedsland in dieser Frage bewegt, kann sich auch die Haltung der EU als Ganzes ändern.

III. Das ACT-Accelerator-Programm muss intensiv unterstützt werden

Trotz aller Herausforderungen durch die COVID-19-Pandemie befindet sich Nordrhein-West­falen in einer privilegierten Situation. In den nächsten Monaten wird es möglich sein, einen Großteil der Bevölkerung zu impfen, während viele Staaten des globalen Südens bisher nicht einmal die Möglichkeit haben, medizinisches Personal zu impfen. Um dieser massiven Ungleichheit entgegenzuwirken, sollen im Rahmen des ACT-Accelerator-Programms der WHO bis Ende des Jahres 2021 zwei Milliarden Impfdosen gerecht verteilt werden.6 Wenn dieses Ziel erreicht wird, können noch in diesem Jahr 20 % der vulnerabelsten Menschen geimpft werden. Nach diesem ersten Schritt muss die Impfquote im folgenden Jahr deutlich erhöht werden.

Die Finanzierungslücke des ACT-Accelerators für das Jahr 2021 beträgt mit Stand vom 11. März 2021 ca. 22,1 Milliarden US-Dollar.7 Es bedarf daher einer gemeinsamen finanziellen Anstrengung aller Ebenen, diese Lücke schnellstmöglich zu schließen, um den Erfolg der Eindämmung der Pandemie nicht zu gefährden.

IV. Mehr Mittel zur Forschung und Entwicklung von COVID-19-Technologien

Es müssen ebenfalls mehr Mittel in Forschung und Entwicklung von Covid-19-Technologien bzw. ganz grundsätzlich von Technologien zur Eindämmung pandemischer Lagen fließen. Da­bei ist auf Förderbedingungen für sozial gerechten Zugang zu den zu entwickelnden Produkten und auf Technologie-Transfers in die Länder des globalen Südens zu achten. Dazu gehört auch die energische Forschung und Entwicklung von Medikamenten für an COVID-19 er­krankte Menschen.

V. Der Landtag stellt fest
Der Landtag stellt fest:

  1. Die COVID-19-Pandemie kann einzig durch intensive internationale Zusammenarbeit effektiv eingedämmt werden. Auch Nordrhein-Westfalen wird dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.
  2. Globale Impfstoffgerechtigkeit ist eine zentrale ethische, gesundheitliche und wirtschaftliche Frage, der eine entscheidende Rolle für den Weg aus der Pandemie zukommt.
  3. Die Europäische Union und die Bundesregierung haben erhebliche finanzielle Mittel zugesichert, was ausdrücklich zu begrüßen ist. Es bedarf jedoch dringend weiterer Finanzierung, um ein Mindestmaß an Erfolg im Jahr 2021 sicherzustellen.

VI. Der Landtag beschließt

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

  1. sich auf europäischer und Bundesebene für einen TRIPS-Waiver einzusetzen, der die Eigentumsrecht für alle Technologien zur Diagnose, Vorbeugung und Behandlung von Covid-19 zeitweilig aussetzt;
  2. sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass über die Auslösung von Art. 122 TFEU Patente für o.g. Covid-19-Technologien freigegeben und die Herstellerfirmen ange­messen entschädigt werden;
  3. sich auf europäischer und Bundesebene dafür einzusetzen, eine globale Impfstrategie zu erarbeiten, welche die besonderen Herausforderungen der Länder des globalen Südens berücksichtigt und jahrelange Verzögerungen bei der Impfstoffverteilung verhindert;
  4. sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, dass sich die Bundesregierung am Programm Access to COVID-19 Tools Accelerator stärker beteiligt
  5. eine Task Force zur Produktion von Impfstoffen oder Grundstoffen zur Produktion von Impfstoffen auch in NRW massiv zu forcieren;
  6. Forschung und Entwicklung für weniger temperatursensible Impfstoffe stärker zu fördern unter Formulierung klarer Bedingungen für sozial gerechten Zugang;
  7. Forschung und Entwicklung weiterer Covid-19-Technologien stärker zu fördern und dabei zu prüfen, ob Herstellerfirmen als letztes Mittel zur Vergabe von Lizenzen verpflichtet wer­den müssen, um die notwendigen Herstellungsziele bei o.g. Produkten zu erreichen;
  8. Anschubfinanzierungen und Technologie-Transfers in den Ländern des globalen Südens stärker zu fördern, um den Ausbau von bestehenden Produktionskapazitäten und die Stär­kung leistungsfähiger regionaler Verteilungssysteme für Medikamente und Medizinpro­dukte zu unterstützen.

 

1 Challenges in ensuring global access to COVID-19 vaccines: production, affordability, allocation, and deployment, https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)00306-8/fulltext (zuletzt aufgerufen am 10.05.2021, 9:00).

2 Indien und Südafrika fordern von WTO, Patente wegen Covid-19 auszusetzen (bukopharma.de) (zu­letzt abgerufen am 10.05.2021, 9:00).

3 Biden: Freigabe von Patentschutz für Corona-Impfstoff – ZDFheute (zuletzt abgerufen am 10.05.2021, 9:00).

4 EU will Patentschutz für Impfstoff nicht aussetzen (faz.net) (zuletzt abgerufen am 10.05.2021, 9:00).

5 Charles Michel says EU could invoke ‘urgent measures’ in response to vaccine shortfall – POLITICO (zuletzt abgerufen am 10.05.2021, 9:00).

6 Vgl. ACT-A Prioritized Strategy & Budget for 2021, 4th Facilitation Council, https://www.who.int/publications/m/item/act-a-prioritized-strategy-and-budget-for-2021 (zuletzt abgeru­fen am 10.05.2021, 9:00).

7 Vgl. Access to COVID-19 tools funding commitment tracker, https://www.who.int/publications/m/item/accessto-covid-19-tools-tracker (zuletzt abgerufen am 10.05.2021, 9:00).