Durch die Corona-Pandemie klafft die Schere der sozialen und Bildungsungleichheit immer weiter auseinander. Die Auswirkungen sind ein Jahr, nachdem die Pandemie NRW erreicht hat, immer deutlicher erkennbar. Besonders Kinder leiden unter den Einschränkungen, sie vermissen ihre Klassenkameraden, Schulfreunde und Freizeitaktivitäten. Die Bildungs- und Teilhabechancen sowie die Betreuungsangebote in Landes- und Sammelunterkünften waren indes schon vor der Pandemie unzureichend.
Unterbringung und Betreuung durch Corona deutlich verschlechtert
Kinder mit Fluchtgeschichte sind besonders schutzbedürftig. Sammelunterkünfte, wie sie auf Landesebene existieren, stellen für sie nach den oftmals traumatischen Erlebnissen – vor und während der Flucht – keine optimalen Schutz- und Wohnräume dar. Die Kinder haben in den oft abgelegenen Unterkünften keinen Kontakt zu gleichaltrigen ohne Fluchtgeschichte. Neu hinzu kommen die Angst, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, die verordneten Kontaktbeschränkungen und der Wegfall von tagesstrukturierenden Betreuungsangeboten.
Die Verweildauer von Kindern und Familien in den Aufnahmeeinrichtungen des Landes wird in einigen Fällen immer noch unzulässigerweise überschritten. Gemäß §47 (1) AsylG dürfen Minderjährige und ihre Familienangehörige längstens sechs Monate in einer Aufnahmeeinrichtung wohnen. Darüber hinaus regelte die Landesregierung in NRW in einem Erlass, dass „Familien oder allein sorgeberechtigte Elternteile mit minderjährigen Kindern, die sich nicht im beschleunigten Asylverfahren gem. § 30a AsylG befinden“, im vierten Aufenthaltsmonat in eine Kommune zuzuweisen sind, „sofern die Ausreise, die Abschiebung oder Überstellung im Dublin-Verfahren innerhalb der nächsten zwei Monate unwahrscheinlich ist“.1 Dennoch befanden sich zum Stand vom 31.12.2020 8% der Minderjährigen, also 96 Kinder und Jugendliche, länger als die nach § 47 Abs. 1 AsylG zulässigen sechs Monate in den Landesunterkünften (vgl. Sachstandsbericht staatliches Asylsystem 4. Quartal 2020, S. 13). Laut Bericht und gemäß der Ausführungen des MKFFI im Integrationsausschuss vom 17.03.2021 seien sämtliche Kinder, die im Dezember vergangenen Jahres über sechs Monate in Landesunterkünften verbringen mussten, mittlerweile jedoch den Kommunen zugewiesen worden. Demnach seien aktuell keine Kinder länger als neun Monate in den Landesunterkünften untergebracht. Über die aktuelle Anzahl von Minderjährigen, die über sechs Monate in den Unterbringungseinrichtungen verweilen, macht das MKFFI jedoch keine Aussagen.
Gleichzeitig sind Betreuungsangebote bis heute weitgehend heruntergefahren. Laut ministerieller Vorlage (17/4875) mit Stand vom 5. März dieses Jahres fehlen bei etwa der Hälfte der Unterbringungseinrichtungen des Landes tagesstrukturierende Angebote und/oder Sportangebote für Jugendliche und/oder ehrenamtliche Angebote. In der EAE Bielefeld, ZUE Rüthen, ZUE Herford und ZUE Weeze fehlen sämtliche Angebote wie Kinderspielstube, als auch tagesstrukturierende und Bewegungsangebote für Jugendliche, sowie ehrenamtliche Angebote (ebd.).
Dies zeigt deutlich, dass sich nach über einem Jahr der Corona-Pandemie die Lage speziell für Jugendliche und Kinder in den Unterbringungseinrichtungen stark verschlechtert hat und diese Unterkünfte keine adäquaten Orte für Minderjährige sind.
Unzureichende Bildungschancen für Geflüchtete im schulpflichtigen Alter
Das Recht auf Bildung ist bekannterweise Gegenstand der UN-Kinderrechtskonvention, als Bestandteil der EU Menschenrechtskonvention ( Art. 2 EMRK) geschützt und in Art. 14 der EU-Aufnahmerichtlinie verankert. Der Besuch in einer Regelschule erfolgt jedoch meist erst nach der Zuweisung in eine Kommune. Dies führt dazu, dass geflüchtete Kinder im schulpflichtigen Alter, die in den Flüchtlingsunterkünften des Landes wohnen, nur unzureichenden Zugang zu Bildung haben. Corona hat auch diesen Zustand verschärft.
Laut der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und des Bundesfachverbandes unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF), der Landesflüchtlingsräte und Pro Asyl leiden insbesondere Kinder mit Fluchtgeschichte zunehmend unter schlechten Bildungschancen2. Wegen der Corona-Pandemie sind Kinder im schulpflichtigen Alter auf den Zugang zum Internet und auf die Versorgung mit digitalen Endgeräten wie Laptops, Computer oder Drucker angewiesen. In Sammelunterkünften, wie sie auf Landesebene und in vielen Kommunen existieren, fehlen bisher eine flächendeckende technische Ausstattung, sowie Lern- und Rückzugsräume für die Kinder.
Anstatt geflüchtete Kinder in Regelschulen unterrichten zu lassen, plante die Landesregierung den sukzessiven Aufbau eines flächendeckenden Bildungsangebots für geflüchtete Kinder im schulpflichtigen Alter in den Landesunterkünften, quasi ein paralleles Beschulungssystem. Dieses Vorhaben hatte das MKFFI bereits im Dezember 2019 angekündigt: „Ziel ist es, dieses schulnahe Bildungsangebot des Landes ab dem Jahr 2020 in allen ZUE zu etablieren und zeitnah mit mindestens einer ZUE pro Regierungsbezirk zu beginnen.“ (s. Drucksache 17/2824). Nach über einem Jahr wird zur Zeit laut Bericht mit Stand vom 5. März 2021 in nur sechs Unterbringungseinrichtungen ein entsprechendes Angebot tatsächlich umgesetzt (s. Drucksache 17/4875). Dies ist vor dem Hintergrund von aktuell 30 belegten Zentralen Unterbringungseinrichtungen mit gerade einmal 20% keine zufriedenstellende Zahl.
Die Bildungschancen sind für geflüchtete Kinder im schulpflichtigen Alter also besonders schlecht, wenn sie nicht in das reguläre Schulsystem integriert werden und sie keine ausreichende technische Ausstattung oder entsprechende Rückzugmöglichkeiten für ein konzentriertes Lernen haben.
Vor diesem Hintergrund fragen wir die Landesregierung:
- Wie viele geflüchtete Kinder im schulpflichtigen Alter in Zentralen Unterbringungseinrichtungen nehmen zur Zeit effektiv an regulären oder schulnahen Bildungsangeboten teil?
- Welche digitale Ausstattung und Lernorte stehen jedem geflüchteten Kind im schulpflichtigen Alter in den Zentralen Unterbringungseinrichtungen zur Verfügung (bitte nach Art der Ausstattung sowie nach einzelnen Unterbringungseinrichtungen des Landes aufschlüsseln)?
- Gemäß der Landesregierung müssen „im Rahmen der in der Leistungsbeschreibung für die Betreuungsdienstleistung vorgegebenen Kinderbetreuung […] in allen Aufnahmeeinrichtungen des Landes aktuell altersangemessene Angebote sowie Aktivitäten im motorischen Bereich durchgeführt werden“ (vgl. Drs. 17//3383). Inwieweit sind die Betreuungsdienstleister der Zentralen Unterbringung weiterhin verpflichtet, diese Angebote aufrecht zu erhalten?
- Mit welchen konkreten Maßnahmen ermöglicht die Landesregierung Freizeit- und Bildungsangebote auch während der Corona-Pandemie?
- Wie gewährleistet Flüchtlings- und Kinderminister Dr. Stamp die Achtung der UN-Kinderrechtskonvention auch für Kinder, die in den Zentralen Unterbringungseinrichtungen untergebracht sind?
1 MKFFI NRW, Erlass zur Steuerung des Asylsystems 2018, S. 8