Welche Standards zur Prävention und zum Schutze der Bewohnerinnen und Bewohner mit besonderem Schutzbedarf setzt die Landesregierung in Landesunterkünften für Geflüchtete um?

Kleine Anfrage von Berivan Aymaz

Portrait Berivan Aymaz 2021

„Eine Abwägung des Schutzrechts der Geflüchteten gegenüber denen der Allgemeinbevölkerung ist im Infektionsschutzgesetz nicht vorgesehen, da jedes Leben gleich zu schützen ist.“, so steht es in der kürzlich veröffentlichten Studie „SARS-CoV-2 in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete“ des Kompetenznetzes Public Health COVID-19 (https://www.public-health-covid19.de/images/2020/Ergebnisse/FactSheet_PHNetwork-Covid19_Aufnahmeeinrichtungen_v1_inkl_ANNEX.pdf). Das Forschungsvorhaben konzentrierte sich auf das Infektionsrisiko von Geflüchteten, die in Aufnahmeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind.
Die Ergebnisse der Studie stellen dar, dass das Ausbreitungsrisiko in einer Gemeinschaftsunterkunft deutlich erhöht ist, etwa vergleichbar mit dem Ansteckungsrisiko auf einem Kreuzfahrtschiff. Ausschlaggebende Faktoren für ein erhöhtes Infektionsrisiko in Gemeinschaftsunterkünften sind demnach die Belegungsdichte der Einrichtung, die Möglichkeiten zur Selbstisolation und zur physischen Distanzierung der Bewohnerinnen und – bewohner untereinander, die Möglichkeiten zur effektiven Trennung Infizierter von Nichtinfizierten, der Zeitpunkt der Identifizierung eines Falls. Dabei seien gemeinschaftlich genutzte Küchen und sanitäre Anlagen „vermeidbare Risiken“, die mit einer dezentralen Unterbringung bzw. mit Einzelzimmern oder kleinen Wohneinheiten zu lösen seien (ebd.). Insgesamt müssen vor allem präventive Vorkehrungen getroffen werden, um die Gefahr einer Infektion auf ein Minimum zu reduzieren.
Insbesondere mit Blick auf die Identifizierung von Personen, die einer Covid-19-Risikogruppe angehören, stellen die Autorinnen und Autoren einen hohen Verbesserungsbedarf fest. Denn für Geflüchtete, die in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht sind und zu einer Corona-Risikogruppe zählen, kann die Ansteckung mit Covid-19 besonders schwere Krankheitsverläufe hervorrufen. Darauf weisen auch die neuen Empfehlungen des Robert-Koch Instituts (RKI) hin, die unterstreichen, dass eine größtmögliche Minderung des Risikos für eine Infektion besonders wichtig ist (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/AE-GU/Aufnahmeeinrichtungen.html).
Ebenfalls stehen besonders Schutzbedürftigen, etwa Frauen, Kindern, Schwangeren, usw. laut EU-Aufnahmerichtlinie besondere Schutzmaßnahmen zu, die auch in Pandemiezeiten nicht unterlaufen werden dürfen.
Insbesondere eine sogenannte Kollektivquarantäne, in der alle Bewohnerinnen und Bewohner einer Unterbringungseinrichtung in Quarantäne genommen werden, unabhängig, ob bei ihnen eine Ansteckung mit Corona erfolgt ist oder nicht, birgt laut RKI und dem Kompetenznetz Public Health COVID-19 ein sehr hohes Risiko sich zu infizieren, was für Risikopersonen gefährlich und für besonders Schutzbedürftige wie etwa Kinder, Behinderte, ältere Menschen, Schwangere, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen oder psychischen Störungen und Gewaltopfer, sehr belastend sein kann.
Mit der daraus resultierenden erhöhten Risikolage für alle Bewohnerinnen und Bewohner einer Gemeinschaftsunterkunft geht letztlich eine unzulässige Abwägung auf ein Recht auf körperliche Unversehrtheit zwischen der Gesamtbevölkerung und den Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften einher, die ebenfalls weder im Infektionsschutzgesetz noch in der Coronaschutzverordnung vorgesehen ist.
Um alle Bewohnerinnen und Bewohner sicher vor einer Ansteckung zu schützen, empfiehlt das RKI unter anderem folgende präventive Maßnahmen ( https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/AE- GU/Aufnahmeeinrichtungen.html#doc14256998bodyText3):
·                Risikopersonen möglichst separat unterzubringen, mit eigenem Sanitärbereichen und einer Möglichkeit zur Selbstisolation; Die benötigte medizinische Versorgung muss gewährleistet sein.
·                In einem Zimmer sollten möglichst nur Personen aus einer Familie bzw. enge Bezugspersonen zusammen untergebracht werden.
·                Etablierung eines Infektionsschutzteams zur Umsetzung der Präventionsmaßnahmen und zur Durchführung des Ausbruchsmanagements, bestehend aus Gesundheitsamt, Sozialarbeit, psychosozialer Versorgung, Sprachmittler/-innen und Bewohner/-innen als Multiplikator/-innen
·                medizinische Versorgung vor Ort mit Testkapazitäten
·                erhöhte psychosoziale Versorgung vor Ort
·                systematisches Eingangsscreening und Symptom-Monitoring bei Neuzugängen, systematische Identifikation von Risikogruppen und deren frühzeitige Separierung mitsamt ihrer engsten Angehörigen
·                Kohortenbildung im Ausbruchsfall, um lange Quarantänedauern zu verhindern
·                dringende Empfehlung eine Quarantäne der gesamten Aufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft sowie das Errichten von (zusätzlichen) physischen Barrieren (Zäunen) zu vermeiden
·                umfassende und strukturierte Dokumentation der Corona-Fälle mitsamt Kontaktpersonen
Darüber hinaus rät das Kompetenznetz Public Health COVID-19 dazu, die Datenlage zur gesundheitlichen Situation von Geflüchteten zu verbessern. Eine Möglichkeit stellt der Aufbau einer elektronischen Patientenakte dar, der ebenfalls durch das
Bundesgesundheitsministerium im Rahmen eines Modellprojekts „Sentinel Surveillance der Gesundheit und medizinischen Versorgung von Asylsuchenden in Aufnahmeeinrichtungen in Deutschland“ angestrebt worden war. Mit dieser Software ist unter Beachtung des Datenschutzes eine Datenweitergabe zum Zwecke der Mit- und Weiterbehandlung von Patientinnen und Patienten möglich. Ein aufbauendes „Covid-19-Modul“ wurde bereits im März zur Verfügung gestellt (ebd.). Baden-Württemberg, Hamburg und Bayern haben das System bereits in einigen ihrer Unterkünfte eingeführt (https://www.pri.care/?page_id=36&lang=de).
Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:
1.        Wie werden medizinische Daten von Asylsuchenden in NRW erfasst?
2.        Wir werden medizinische Daten unter Berücksichtigung des Datenschutzes zwischen den einzelnen Unterkünften/Behörden ausgetauscht?
3.        Aus welchen Gründen hat sich NRW nicht am 2019 ausgelaufenen Bundesmodellprojekt des Bundesgesundheitsministeriums „Sentinel Surveillance der Gesundheit und medizinischen Versorgung von Asylsuchenden in Aufnahmeeinrichtungen in Deutschland zum Aufbau einer elektronischen Patientenakte
(Dokumentationssoftware RefCare) beteiligt?
4.        Inwieweit plant die Landesregierung den Aufbau einer elektronischen Patientenakte, etwa in Form der Dokumentationssoftware RefCare?
5.        Vor dem Hintergrund der angeführten gesundheitlichen Risiken und normativ-rechtlichen Aspekte, die eine Kollektivquarantäne hervorruft: Inwieweit plant die Landesregierung, zukünftig von einer Kollektivquarantäne als unverhältnismäßige Maßnahme abzusehen?