Seenotrettung als humanitäre Verpflichtung – solidarischen Kommunen die Aufnahme von Geflüchteten ermöglichen

Antrag der GRÜNEN im Landtag

Portrait Berivan Aymaz 2021

Mehr als 68 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Die Gründe dafür sind vielfältig: Sie fliehen vor Verfolgung, vor Krieg, Gewalt und auch vor den Folgen des Klimawandels. Mehr als 40 Millionen Menschen sind Binnenvertriebene, die sich im eigenen Land auf der Flucht befinden. Diejenigen, die ihr Land verlassen, finden zum größten Teil Schutz in den Anrainerstaaten ihrer Herkunftsländer wie in der Türkei, Pakistan, Uganda Libanon. Weniger als vier Prozent aller Geflüchteten macht sich auf den Weg nach Europa (https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/nothilfe-fuer-fluechtlinge-auf-dem-mittelmeer-und-europa-0). Für viele stellt sich dabei die Mittelmeerroute als einziger Weg dar, da andere Fluchtrouten in zunehmendem Maße geschlossen werden. Die Menschen sehen sich gezwungen, immer gefährlichere Routen zu nutzen, um nach Europa zu gelangen. Obwohl sich 2018 insgesamt weniger Menschen zur Flucht über das Mittelmeer entschlossen haben, ist die Zahl der Ertrunkenen weiter angestiegen. Laut dem aktuellen UNHCR-Bericht ertranken im Jahr 2018 mindestens 2.275 Menschen, durchschnittlich sechs pro Tag. Auf der Fluchtroute zwischen Libyen und Europa starb jeder 15. Geflüchtete bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Die Dunkelziffer der Toten dürfte dabei weit höher sein. Dies macht das Mittelmeer erneut zur tödlichsten (See-)Fluchtroute der Welt.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht akzeptabel, dass die EU-Staaten und auch die Bundesregierung diesen unhaltbaren Zustand nur hinnehmen und aufgrund ihrer Untätigkeit für diese humanitäre Katastrophe mitverantwortlich sind. Infolgedessen ergreifen seit 2015 zivile Organisationen wie etwa „Sea Watch“, „Jugend Rettet e.V.“ „SOS Méditerranée/Ärzte ohne Grenzen“ und „Lifeline“ selber die Initiative, um Menschenleben auf dem Mittelmeer zu retten. Ohne staatliche Unterstützung und allein finanziert aus Spendengeldern, haben die Ehrenamtlichen bereits Zehntausende vor dem Ertrinken gerettet. Doch anstatt die zivilgesellschaftlichen Organisationen bei ihren Rettungsmissionen zu unterstützen, werden sie von staatlicher Seite aktiv an ihrer Arbeit gehindert. So wurde den meisten Schiffen bereits die Flagge entzogen, was einen Großteil der Rettungsmissionen mittlerweile unmöglich macht. Darüber hinaus hemmen Kriminalisierungs- und Diffamierungskampagnen das humanitäre Engagement der Rettenden.
So ist die Tatsache, dass in jüngster Vergangenheit das Rettungsschiff Lifeline mit 234 Geretteten an Bord viele Tage auf dem Mittelmeer ausharren musste, bevor es in Malta in einen sicheren europäischen Hafen einlaufen durfte, ein humanitäres Armutszeugnis. Unterdessen läuft gegen Kapitän Claus-Peter Reisch ein Strafprozess, bei dem ihm eine mehrjährige Haftstrafe droht.
Ein humanitärer Tiefpunkt im Kontext der Seenotrettung ist das Handeln von Italiens Innenminister Salvini. Zum wiederholten Male weigerte er sich, dem unter italienischer Flagge fahrenden Rettungsschiff „Mare Jonio“ die Genehmigung zu erteilen, in einen italienischen Hafen einlaufen zu dürfen (https://www.dw.com/de/italien-verbietet-fl%C3%BCchtlingsschiff-erneut-die-einfahrt/a-47971805). Unter den 49 erschöpften und dehydrierten Geretteten befanden sich auch zwölf Minderjährige. Die „Mare Jonio“ wurde von der italienischen Polizei wegen Begünstigung illegaler Migration beschlagnahmt, während den Crew-Mitgliedern der Prozess gemacht wird und Haftstrafen über mehrere Jahre drohen. Einige Wochen zuvor musste sich das Rettungsschiff Sea-Watch 3 sogar an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden und eine Weisung gegenüber Italien erwirken, das sich geweigert hatte, dem Schiff medizinische Unterstützung und Verpflegung zukommen zu lassen. Das Rettungsschiff hatte 47 Geflüchtete an Bord (https://www.dw.com/de/italien-muss-sea-watch-migranten-helfen/a-47285130). Noch härter trifft es das Schiff „Iuventa“ der Organisation „Jugend Rettet e.V.“: Gegen zehn Besatzungsmitglieder hat die italienische Regierung wegen Beihilfe zur illegalen Migration einen Strafprozess eingeleitet. Ihnen drohen bis zu 20 Jahre Haft und eine Geldstrafe in Millionenhöhe. Die „Iuventa“ wurde im August 2017 beschlagnahmt. In ihren insgesamt 15 Missionen hatte die Crew mehr als 16.000 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet (https://www.zdf.de/nachrichten/heute/mittelmeer-rettungsschiff-iuventa-ein-jahr-beschlagnahmt-100.html).
Während zivile Organisationen also aus eigenen Ressourcen versuchen Menschenleben zu retten, verharren die EU-Staats- und Regierungschefs in Untätigkeit und nehmen das zahlreiche Sterben auf dem Mittelmeer in Kauf, da sie sich nicht auf einen europäischen Verteilungsschlüssel für die aus Seenot Geretteten einigen können. Stattdessen wird bei jedem ankommenden Rettungsschiff in einem unerträglich langen Verfahren verhandelt, welcher Staat wie viele Gerettete aufnehmen soll. Gleichzeitig wurden die Einsätze der EU- Mission EUNAVFOR Med „Operation Sophia“, – benannt nach einem Kind, das im August 2015 auf einer deutschen Fregatte von einer somalischen Geflüchteten geboren wurde – deutlich zurückgefahren (2016 – 2017: 83 Einsätze, 2017 – 2018: 25 Einsätze). Ende März entschieden die EU-Mitgliedstaaten auf Druck Italiens den Einsatz von Schiffen komplett einzustellen, es soll bis auf weiteres nur noch aus der Luft beobachtet werden. Während ihrer Einsätze rettete die Operation rund 45.000 Menschen vor dem Ertrinken. Diese Entwicklungen bestätigen, dass die Europäische Seenotrettung gescheitert ist.

Humanitäre Grundprinzipien einhalten – Menschenleben retten

Dabei ist insbesondere das Gebot, aus Seenot geretteten Menschen Schutz zu gewähren, in der maritimen Tradition tief verankert. So verpflichtet Artikel 98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen alle Schiffe dazu, jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten. Dies gilt unabhängig vom seerechtlichen Status des Gewässers und unabhängig davon, ob die Notlage von den zu rettenden Personen „selbst oder schuldhaft“ herbeigeführt wurde.

Darüber hinaus stellt die Europäische Union mit der Charta der Grundrechte den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns und gründet sich auf den unteilbaren und universellen Werten der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität (https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:12012P/TXT&from=DE). Dieses Selbstverständnis sollte allein schon Beweggrund genug sein, um die Rettung von in Seenot geratenen Menschen zu unterstützen oder sie wenigstens nicht aktiv zu behindern.
Zudem unterliegen EU-Staaten nach Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Anti-Folter-Konvention dem Non- Refoulement-Grundsatz. Demnach darf kein Geflüchteter ohne Prüfung der Schutzbedürftigkeit in ein Land ausgewiesen werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht ist. Dies schließt eine Zurückführung von Geflüchteten nach Libyen, wie sie aktuell von der EU betrieben wird, eindeutig aus. Laut Amnesty International werden zahlreiche Flüchtlinge in Haftzentren inhaftiert, nachdem die libysche Küstenwache sie bei dem Versuch, das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren, abgefangen hatte. Sie werden unter erbärmlichen Haftbedingungen in völlig überfüllen Zellen festgehalten, der Zugang zu medizinischer Versorgung und ausreichender Nahrung wird ihnen verwehrt. Zudem berichtet die Organisation von systematischer Folter und Misshandlungen wie sexualisierter Gewalt, schweren Schlägen und Erpressung (https://www.amnesty.de/jahresbericht/2018/libyen#section-1723485). Die EU ist hier gefordert, sich auf ihre humanitären Werte zurückzubesinnen und dieser menschenverachtenden Praxis endlich Einhalt zu gebieten.

Zahlreiche Kommunen und zivile Akteure werden aktiv

Die desaströse Situation der Seenotrettung auf dem Mittelmeer und das damit verbundene Schicksal von tausenden Geflüchteten wollen viele Akteure in ganz Deutschland nicht länger tatenlos hinnehmen.
In NRW setzten bereits zahlreiche Städte und Gemeinden ein Zeichen für die Entkriminalisierung der Seenotrettung und erklären sich solidarisch als „Sichere Häfen“ bereit, ihre bestehenden Ressourcen und Infrastrukturen zu nutzen, um aus Seenot gerettete Geflüchtete über die eigene Aufnahmequote hinaus bei sich aufzunehmen. Die Kommunen stehen damit im engen Schulterschluss mit zivilgesellschaftlichen Organisationen wie dem
„Bündnis Seebrücke“ und kirchlichen Einrichtungen, wie etwa der Evangelischen Kirche im Rheinland. Schon im Sommer letzten Jahres schlossen sich die OberbürgermeisterInnen der Städte Köln, Bonn und Düsseldorf zusammen und forderten Bundeskanzlerin Merkel in einem gemeinsamen Brief auf, die Seenotrettung im Mittelmeer zu ermöglichen und die Aufnahme von aus Seenot geretteten Geflüchteten durch die Kommunen zu sichern, bis eine europäische Lösung gefunden sei (https://www.stadt- koeln.de/mediaasset/content/pdf13/presse/2018/schreiben_an_bundeskanzlerin_merkel.pdf). Sie wollten ein „Signal für Humanität, für das Recht auf Asyl und für die Integration Geflüchteter [setzen]“, so begründeten die Städte ihren Vorstoß. Die Städte Krefeld, Solingen, Remscheid, Wuppertal und Bielefeld unterstützen diese Initiative mit eigenen Schreiben an die Bundeskanzlerin.
Darüber hinaus brachten Kommunen wie Arnsberg, Kempen, Bad Lippspringe und Blomberg Ratsanträge auf den Weg, die fraktionsübergreifend Unterstützung fanden. So beschloss etwa der Rat Kempen, dass „eine Geste des hilflosen Bedauerns [nicht ausreicht], sondern angesichts dieser tiefen Krise des europäischen Wertesystems […] nur konkretes Handeln überzeugen [kann]“ (https://seebruecke.org/wp- content/uploads/2019/01/Antrag_Arbeitskreis_Asyl_und_Menschenrechte.pdf ). Mit Unterstützung des Deutschen Städtetags und in Anerkennung des humanitären Engagements vieler zivilgesellschaftlicher Akteure sprechen sie sich damit gegen die Kriminalisierung privater Seenotrettung aus und erklären ebenfalls ihre Bereitschaft, ihre vorhandenen Kapazitäten einzusetzen und Gerettete bei sich aufzunehmen.
Nach diesem breit getragenen Vorstoß der Kommunen sollte nun auch endlich die Landesregierung Verantwortung übernehmen und die Kommunen bei ihrem Anliegen unterstützen, etwa indem sie sich für die Einrichtung ein Landesaufnahmeprogramm gemäß §23 AufenthG einsetzt. So würde Kommunen die Möglichkeit eröffnet, Seenotgerettete bei sich aufnehmen zu können und ihnen eine Perspektive zu geben.

I.         Der Landtag stellt fest:

Das Recht auf Leben und Sicherheit ist ein fundamentales Recht – auch auf dem Meer. Die NGOs vor Ort helfen Menschen in Not, wo Staaten es nicht tun.
Solange sich auf EU-Ebene kein Fortschritt in den Verhandlungen abzeichnet, müssen die nicht-staatlichen Seenotrettungs-Organisationen unterstützt werden, statt sie mit haltlosen Anschuldigungen zu überziehen und ihre Rettungsmissionen zu behindern.
Und es gilt auch, den Kommunen bei der Umsetzung ihres Anliegens, aus Seenot gerettete Geflüchtete bei sich aufzunehmen, von Landesseite aus beizustehen. Die Solidarität von aufnahmebereiten Städten und Gemeinden muss gefördert werden.
Die Integration und Versorgung der Geflüchteten liegt in der Verantwortung von Ländern und Kommunen, sodass die aus ihrer Mitte entstehenden Initiativen ernst zu nehmen und zu unterstützen sind. Ferner ist von Seiten der Landesregierung nachdrücklich auf die Bundesregierung hinzuwirken, sich auf EU-Ebene für eine schnelle Einigung für die Seenotrettung einzusetzen. Wir dürfen es nicht länger zulassen, dass Rettungsschiffe mit dringend zu versorgenden Geflüchteten an Bord oft tagelang vor den Küsten der Mittelmeerstaaten ausharren müssen, bis endlich die Einfahrt in einen sicheren Hafen genehmigt wird. Statt des bisher praktizierten „ship-by-ship-approachs“, der von einer schleppenden und gleichzeitig chaotischen ad-hoc-Aufnahme-Prozedur durch einzelne EU- Staaten geprägt ist, brauchen wir ein unkompliziertes, pragmatisches und allgemein akzeptiertes Verfahren. Solange jedoch keine europäische Lösung gefunden ist, muss die zivilgesellschaftliche Rettung von in Seenot geratenen Geflüchteten gestattet werden.

II.       Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

1.     die Kommunen, die aus humanitärer Verpflichtung Geflüchtete aus der Seenotrettung aufnehmen wollen, dabei mit allen Mitteln zu unterstützen.
2.     auf der Innenministerkonferenz die Einrichtung eines Landesaufnahmeprogramms zu beantragen, das die Möglichkeiten der Aufenthaltsgewährung nach § 23 Abs. 1 bzw. Abs. 2 AufenthG für Seenotgerettete nutzt und ausschöpft.
3.     bei der Bundesregierung darauf hinzuwirken, eine baldige, menschenrechtsbasierte Lösung auf EU-Ebene herbeizuführen, die eine schnelle und effiziente Rettung, Aufnahme und Verteilung von Geflüchteten aus der Seenotrettung garantiert.