Ein Jahr nach Hanau – Es ist Zeit zu handeln

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022
Portrait Berivan Aymaz 2021

Vor einem Jahr wurden Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Ferhat Unvar, Vili Viorel Păun, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu und Gökhan Gültekin aufgrund rassistischer Motive grausam ermordet. Dieses schreckliche Verbrechen mahnt Gesellschaft, Politik und Sicherheitsbehörden ihrer Verantwortung im Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus – vor allem zum Schutz der Betroffenen – nachzukommen.


Die Tatnacht

Am 19. Februar 2020 wurden innerhalb weniger Minuten neun junge Menschen aus dem Leben gerissen. Sie hielten sich in oder vor Orten auf, an denen sie regelmäßig anzutreffen waren: ein Kiosk, eine Bar und zwei Shisha-Bars. Orte, an denen sie sich vermutlich sicher fühlten. Der Ausspruch, der vielen auf den Lippen liegen wird, um auszudrücken, dass die Opfer nichts tun konnten, um der Tat zu entgehen, ist „zur falschen Zeit am falschen Ort“. Doch er will hier nicht passen. Denn der Täter hat bewusst diese Orte aufgesucht, um Menschen mit Migrationsgeschichte zu töten. Er ist gewaltsam in Räume eingedrungen, wo Menschen friedlich miteinander lebten. Sie waren am richtigen Ort, er nicht.

Es ist der dritte rechtsterroristische Anschlag innerhalb von neun Monaten in Deutschland. Einem forensischen Gutachten zufolge lag bei dem Täter eine paranoide Schizophrenie vor, die mit einer rechtsextremen Ideologie gepaart war. Dennoch besaß er legal Waffen. Auch die Waffe, mit der er in der Tatnacht schoss, war als Leihgabe eines Waffengeschäftes legal in seinem Besitz. Die Angehörigen der Opfer fragen zurecht, warum ein Mensch legal Waffen besitzen darf, der im Vorfeld psychisch auffällig geworden ist und selbst Schreiben an die Bundesanwaltschaft versandt hat, aus denen seine rassistische und gewaltbereite Haltung deutlich wird.

Erst vor drei Wochen wurde bekannt, dass der Notruf in Hanau in der Tatnacht unterbesetzt war. Auch eines der Opfer, Vili Viorel Păun, soll mehrfach erfolglos versucht haben, den Notruf zu erreichen.

Die klaffende Wunde von Hanau

Nachdem öffentlich bekannt wurde, was geschehen war, bekundeten sehr viele Politikerinnen und Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens ihre Anteilnahme und Solidarität mit den Opfern. In einem Staatsakt mit dem Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin wurde Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Ferhat Unvar, Vili Viorel Păun, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu und Gökhan Gültekin ein würdiges Gedenken bereitet, das vor allem in den Worten der Angehörigen das Ausmaß dieses Verbrechens deutlich machte. Auch zum Jahrestag wird es bundesweit eine Vielzahl an Gedenkveranstaltungen und Aktionen geben. Solche Veranstaltungen sind wichtig, um das Erinnern an die Opfer wach zu halten, um den Angehörigen gegenüber Solidarität auszudrücken und nicht zuletzt, um der Gesellschaft klar zu signalisieren, dass Rassismus niemals geduldet, sondern immer bekämpft werden muss. Es muss aber mehr geschehen.

Aus den vielen Berichten der Angehörigen wird deutlich, dass in Hanau eine tiefe Wunde klafft. Es ist wichtig, dass die Rassismuserfahrungen der Angehörigen jetzt als solche wahrgenommen werden und ihre Forderungen nach umfassender Aufklärung und Schutz für die jungen Menschen in Hanau ernst genommen werden.

Hanau ist überall

Das rechtsterroristische Verbrechen in Hanau betrifft bei weitem nicht nur Hanau. Sowohl die Ursachen der Tat, als auch ihre Wirkung reichen weit über Hanau hinaus.

Der Täter bewegte sich in rechtsextremen Netzwerken im Internet, dort wo rassistische, frauenfeindliche, antisemitische und verschwörungsideologische Narrative verbreitet werden.

Diese menschenverachtenden Bilder entstehen im Kontext gesamtgesellschaftlicher Debatten. Inzwischen ist es eine Binsenweisheit, dass sich die öffentlichen Diskurse in den vergangenen Jahren deutlich in Richtung rechter und rassistischer Haltungen verschoben haben. Diese Diskursverschiebung führt auch zu Gewalttaten. Das zeigte sich deutlich im Anstieg flüchtlingsfeindlicher Straftaten in den Jahren 2015 und 2016, während eine bundesweite Debatte um die Aufnahme und Unterbringung von Geflüchteten stattfand. Der Mord an Dr. Walter Lübcke sowie die rechtsterroristischen Anschläge in Halle und Hanau sind im Kontext gesellschaftlicher Stimmungen zu sehen.

Rassistische Gewalt bildet dabei nur die Spitze des tatsächlichen Problems. Für von Rassismus betroffene Menschen ist er alltäglich und erscheint auf unterschiedlichste Weise: von abschätzigen Blicken über verletzende und beleidigende Sprache oder die Abweisung an der Disko-Tür bis hin zu Diskriminierung in Bildungssystem oder auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Rassismus ist eine in der Kolonialzeit entstandene Ideologie, die eine vermeintliche Überlegenheit Europas begründen soll. Diese Ideologie hat sich im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt, aber sie ist bis heute weit verbreitet in unserer Gesellschaft und führt zu struktureller Diskriminierung von Schwarzen Menschen und People of Colour.

Was zu tun ist

In unserem Grundgesetz sind Gleichberechtigung, Diskriminierungsverbot und Minderheitenschutz fest verankert. Diesen Auftrag müssen wir als Gesellschaft und Politik erfüllen, indem wir einen gleichberechtigen Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen und die Teilhabe auf Augenhöhe an gesellschaftlichen Debatten für alle ermöglichen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss ein ganzes Bündel an Maßnahmen ergriffen werden. Das sind u.a. eine bessere Analyse der Sicherheitsbehörden zu Rechtsterrorismus, Dunkelfeldstudien zu Rassismus, Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus, Antiziganismus, Frauen- und LGBTQI-Feindlichkeit, ein Landesantidiskriminierungsgesetz, eine Landesantidiskriminierungsstelle und nicht zuletzt die Umsetzung der gemeinsamen Handlungsempfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses der 16. Legislaturperiode des Landtags NRW. Denn damit kann gerade der Schutz und die Unterstützung für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt deutlich gestärkt werden. Die Landesregierung hat diese ohne großen Aufwand umsetzbaren Handlungsempfehlungen auch nach fast vier Jahren Regierungszeit nicht angepackt. Es ist Zeit zu handeln.