1 Thema, 2 Abgeordnete: Geflüchtete Kinder in NRW

Josefine Paul und Berivan Aymaz im Gespräch

Portrait Berivan Aymaz 2021
Über 3000 minderjährige Flüchtlinge leben aktuell in den Landeseinrichtungen Nordrhein-Westfalens. Etwa 1000 von ihnen sogar schon länger als drei Monate. Das Motto des diesjährigen Weltkindertags lautet: „Kinder brauchen Freiräume“. Unsere beiden Abgeordneten Josefine Paul, Sprecherin für Kinder, Jugend und Familie und Berivan Aymaz, flüchtlingspolitische Sprecherin, haben das Motto zum Anlass genommen, sich über die Situation der vielen geflüchteten Kinder in NRW auszutauschen.

Josefine Paul: Generell ist es eine wichtige Frage, wo Kinder heute überhaupt noch Freiräume haben. In unseren Städten ist beispielsweise ganz viel bereits vorgegeben und normiert. In Bezug auf Kinder mit Fluchthintergrund stellt sich die Frage nach Freiräumen aber nochmal ganz anders. Sie haben einen anderen Erlebnishorizont, haben vielleicht auch traumatisierende Erlebnisse auf der Flucht gehabt. Ich frage mich: Was brauchen geflüchtete Kinder, damit man ihnen Freiräume ermöglichen kann? Wo haben diese Kinder – gerade wenn sie in Landeseinrichtungen leben – überhaupt Freiräume?

Berivan Aymaz: Das ist tatsächlich ein Problem. Denn in den Landeseinrichtungen gibt es für Kinder kaum Räume, in denen sie sich frei entfalten oder auch mal zurückziehen zu können. Meist sind dort Hunderte Menschen über einen längeren Zeitraum untergebracht. Kinder leiden häufig ganz besonders unter dieser Situation. Und sie haben nicht die Möglichkeit, die häufig traumatischen Erlebnisse der Flucht zu verarbeiten. Die Warteschlangen für die psychosoziale Beratung von Geflüchteten sind lang. Umso wichtiger ist es, dass wir in NRW ein Gewaltschutzkonzept für die Flüchtlingsunterkünfte haben. Die Situation von Kindern muss darin eine besondere Berücksichtigung finden. Bisher geht es da viel um bauliche Maßnahmen, dass Türen zu sanitären Anlagen zum Beispiel Schlösser bekommen. Das ist auch wichtig. Es müssen aber auch konkrete Maßnahmen für Kinder festgeschrieben werden: Ruheräume, Spielräume, Sporträume. Und Kindern muss der Zugang zu Bildung ermöglicht werden. Ein Kinderrecht, das für die NRW-Regierung scheinbar noch immer keine Selbstverständlichkeit ist.

Josefine Paul: Ja genau, mit dem Gewaltschutzkonzept sprichst Du ein zentrales Thema an. Es ist gut, dass NRW mittlerweile ein solches Konzept hat, aber es stellt sich immer noch die Frage nach der Umsetzung. Gerade mit Blick auf Kinder hat es leider noch Lücken. Es ist sehr fokussiert auf Frauen und LSBTI* (Anm. d. Red.: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle), was ein wichtiger Schritt ist, weil diese Gruppen oftmals von Gewalt bedroht sind, aber – wie Du ja richtigerweise sagst – die Frage nach abschließbaren Sanitärräumen ist eben nur ein kleiner Aspekt, wenn es um wirksamen Kinderschutz geht. Gerade mit Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention ist ganz wichtig: Kinder haben eigenständige Rechte. Und Deutschland hat sich zur Umsetzung dieser Rechte verpflichtet. Es bleibt aber zu befürchten, dass die Flüchtlingseinrichtungen – gerade wie Minister Stamp sie mit seinem Asyl-Stufenplan weiterentwickeln will – dass diese Einrichtungen eben nicht konform sind mit der UN-Kinderrechtskonvention.

Berivan Aymaz: Und genau das ist das Dilemma. Wir haben einen Flüchtlingsminister, der zugleich auch Kinderminister ist und der einen Kurs in der Flüchtlingspolitik fährt, der die Situation und die Rechte von geflüchteten Kindern immer noch nicht in den Fokus gerückt hat. Der Stufenplan von Minister Stamp sieht vor, dass Menschen aus Ländern mit sogenannter „ungeklärter Bleibeperspektive“ bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens in Landeseinrichtungen bleiben müssen. Bereits jetzt leben Familien mit Kindern oftmals monatelang in Landeseinrichtungen und werden den Kommunen nicht zugewiesen. Das bedeutet, dass die Kinder nicht zur Kita und zur Schule gehen können. Das musste die Landesregierung jetzt auf meine Kleine Anfrage hin offen legen. Wir GRÜNE haben mehrfach nachgefragt, wie die Landesregierung dieses Problem lösen will, aber die Antwort ist immer nur: Wir prüfen das. Jetzt prüfen sie das aber schon fast ein ganzes Jahr und die Aussicht, dass sich dieser inakzeptable Zustand sehr bald ändert, besteht meiner Meinung nach nicht.

Josefine Paul: Auch für die Kindergartenkinder in den Landeseinrichtungen brauchen wir ein Angebot. Wir alle wissen um die Bedeutung frühkindlicher Bildung und dass die Bildungschancen von Kindern, die keine frühkindlichen Bildungsangebote in Anspruch nehmen konnten, oftmals schlechter sind als die von anderen Kindern. Innerhalb der Einrichtungen muss deshalb geklärt sein, dass Kinder Zugang haben zu Schule und zu Kitas. Was übrigens – ich sagte es bereits – bei der konsequenten Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention gar nicht in Frage gestellt werden dürfte. Aber ein Flüchtlingsminister, der an dieser Stelle immer wieder vergisst, dass er auch Kinderminister ist, scheint wohl ein wenig überfordert mit der Umsetzung.  

Berivan Aymaz
: Unter Rot-Grün wurde ja versucht, die Frage der frühkindlichen Bildung durch die Einführung von sogenannten Brücken-Kitas zu lösen. Auf meiner NRW-weiten Tour “Vielfaltgestalten“ habe ich vor Ort gesehen, dass die Nachfrage riesig ist. Das Personal leistet großartige Arbeit mit viel Engagement: Sie begleiten und beraten die Eltern, sie führen die Kinder in reguläre Kitas ein. Deshalb muss dort unbedingt die Personalausstattung gestärkt werden. Es muss aber auch klar sein, dass das nur eine Übergangslösung sein kann. Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder – unabhängig davon, ob sie Geflüchtete sind oder nicht – die Zugänge in Regeleinrichtungen so schnell wie möglich bekommen. Kitas, Schulen – das muss selbstverständlich sein, denn das Recht auf Bildung ist ein Kinder- und damit auch ein Menschenrecht.

Josefine Paul
: Das erste Ziel muss sein, dass Familien und Kinder möglichst schnell den Kommunen zugewiesen werden – und zwar unabhängig von ihrem derzeitigen Asylstatus. Für Familien ist es unzumutbar in diesen Einrichtungen zu bleiben.

Berivan Aymaz:
Und wenn die Kinder dann endlich den Kommunen zugewiesen sind und zur Schule gehen können, müssen wir trotzdem noch genau hinschauen. Denn sie haben eine sehr schwierige Zeit hinter sich. Sie kommen teilweise aus Ländern mit enormer Gewalt, haben auf der Flucht oftmals schlimme Erfahrungen gemacht. Wir müssen ihnen schnell ermöglichen, dass all das, was sie erfahren haben auch von ihnen unter professioneller Begleitung verarbeitet werden kann. Darauf müssen auch die Kitas, unsere Schulen, aber auch das soziale Umfeld vorbereitet werden. Und natürlich müssen die Kinder schnell Zugang zu anderen Kindern in ihrem Umfeld finden können, die hier schon immer gelebt haben. Dafür braucht es Räume für alle Kinder – ganz unabhängig von ihrer Herkunft – und eine Gesellschaft, die kinderfreundlich und offen ist.

Josefine Paul:
Wir haben über den Kinder- und Jugendförderplan viel Geld in die Strukturen der Jugendarbeit gegeben, damit dort Projekte entstehen, wo eben genau solche Begegnungen stattfinden können. Wo geflüchtete Kinder und Jugendliche auf andere Kinder und Jugendliche treffen. Es ist richtig, dass die Mittel dafür auch über den Regierungswechsel hinweg erhalten geblieben sind. Wir werden allerdings genau hingucken, ob das so bleibt. Denn nicht zuletzt ist die offene Kinder- und Jugendarbeit ein ganz wichtiger Andockpunkt für viele Kinder, auch gerade für Mädchen, um hier Fuß zu fassen, sich integrieren zu können und auch um eigene Fähigkeiten neu zu entdecken. Denn Flucht ist eben – Du hast es eben noch gesagt – ein Ausnahmeerlebnis. Und hier dann in Einrichtungen die eigene Selbstwirksamkeit und Selbstkonzepte zu erlernen, ist ein ganz wichtiger Punkt, der neben den institutionellen Bereichen wie Kita und Schule auf keinen Fall hinten runterfallen darf. Diese Einrichtungen ermöglichen ganz andere Freiräume und ganz andere Orte der Begegnung.