Verena Schäffer: „Wir als Demokratinnen und Demokraten sind immer aufgefordert, uns gegen Antisemitismus zu stellen und uns mit den Betroffenen zu solidarisieren“

Zum Antrag der Fraktionen von CDU, SPD, FDP und GRÜNEN auf eine Aktuelle Stunde "NRW gegen Antisemitismus"

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022

Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Am 11. De­zember im Jahr 321 erließ Kaiser Konstantin ein Edikt, dass Juden städtische Ämter in Köln bekleiden dürfen. In diesem Jahr feiern wir 1.700 Jahre jüdisches Leben und die Vielfalt des Judentums in Deutschland.

Allerdings überschatten die jüngsten antisemitischen Angriffe und Androhungen dieses Fest­jahr. Dass Jüdinnen und Juden unverhohlener Hass entgegenschlägt, dass Synagogen angegriffen werden, dass Israelflaggen – auch hier in Nordrhein-Westfalen – brennen, ist un­erträglich und auf das Schärfste zu verurteilen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Es ist keine neue Erkenntnis, dass gewaltsame Konflikte in Nahost zu antisemitischen Hand­lungen in Deutschland führen. Wir haben das während des Gaza-Kriegs 2014 auch hier in NRW erlebt und müssen es heute wieder erleben.

Wichtig ist mir dabei eines: Der Antisemitismus wird dann nur sichtbar. Vorhanden war er auch vorher. Ich finde, das ist das eigentlich Erschreckende, über das wir reden müssen.

(Beifall von Berivan Aymaz [GRÜNE])

Israelbezogener Antisemitismus macht Jüdinnen und Juden pauschal für politische Entschei­dungen der israelischen Regierung verantwortlich. Es gibt keine Amerika-Kritik, noch gibt es solche Kritik zu einem anderen Land; es gibt einzig Israel-Kritik.

Dabei darf die Regierung Israels selbstverständlich kritisiert werden. Das tun ja auch Israelis – genauso, wie wir immer wieder die Landesregierung kritisieren; Herr Laschet kann ein Lied davon singen.

Aber was sich auf der Demonstration in Gelsenkirchen entladen hat, war keine sachliche Kritik am Handeln Israels. Das war offener Antisemitismus. Genau so muss das auch benannt wer­den. So muss auch das Verbrennen von Israelflaggen vor Synagogen gewertet und verurteilt werden.

Mir bereitet es große Sorge, dass wir es offenbar nicht geschafft haben, dass sich die gesamte Einwanderungsgesellschaft hinter einem Konsens des entschiedenen Kampfes gegen Anti­semitismus versammelt. Hier demonstrieren arabischstämmige Personen gemeinsam mit tür­kischen Nationalisten, die zum Teil seit Jahrzehnten hier leben, hier geboren sind, hier aufge­wachsen sind, hier sozialisiert sind und deutsche Staatsangehörige sind.

Israelbezogener Antisemitismus findet sich auch in linken Milieus. Er findet sich im Rechts­extremismus. Er findet sich in der gesamten Gesellschaft. Deshalb reicht es auch nicht, nur auf andere zu zeigen, um sich selbst zu entlasten. Wir müssen über Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft reden.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD und der FDP)

Ich will aber auch sagen: Wer wie die AfD versucht, aus den antisemitischen Vorfällen Kapital für die eigene rassistische Politik zu ziehen, handelt mehr als schäbig. Antisemitismus lässt sich nicht durch Rassismus bekämpfen. Wir müssen sowohl Antisemitismus als auch Rassis­mus entschieden entgegentreten.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Wenn wir über Antisemitismus sprechen, dann müssen wir über Kontinuitäten sprechen. In den vergangenen 1.700 Jahren haben Jüdinnen und Juden die Gesellschaft maßgeblich mit-geprägt und gestaltet. Es ist auch eine Geschichte der Ausgrenzung und der Verfolgung. Die Zeit der Kreuzzüge, der Mythos der Brunnenvergiftung, die Ritualmordlegende – all das führte immer wieder zu massiver Gewalt gegen Jüdinnen und Juden.

Der Judenhass gipfelte in den menschenverachtenden Verbrechen des NS-Regimes. Und nach 1945? Der Antisemitismus war nie weg. Die Bundesrepublik Deutschland erlebte anti­semitische Straftaten und Anschläge.

Am 9. Oktober 2019 rettete eine Holztür 51 Jüdinnen und Juden, die in der Synagoge in Halle Jom Kippur feierten. Zwei Menschen wurden bei diesem rechtsterroristischen Anschlag getö­tet.

Antisemitismus tritt heute auch als israelbezogener Antisemitismus auf Querdenker-De­monstrationen in Form von antisemitischen Narrativen auf.

Wir als Demokratinnen und Demokraten sind immer aufgefordert, uns gegen Antisemitismus zu stellen und uns mit den Betroffenen zu solidarisieren.

Doch was folgt daraus, wenn wir nicht bei wohlfeilen Sonntagsreden bleiben wollen? Ich ver­suche einmal, ein paar Vorschläge zu machen, die ja diskutiert werden können und auch diskutiert werden müssen.

Erstens. Wir müssen die Perspektive von Jüdinnen und Juden einbeziehen, und zwar die Perspektive von Jüdinnen und Juden auf das Thema „Antisemitismus“. Wir müssen diejeni­gen stärken, die Antisemitismuserfahrungen machen mussten – zum Beispiel durch Bera­tungsstellen wie SABRA in Düsseldorf. Wir müssen Lehrkräfte im Umgang mit Antisemitismus handlungssicher machen, damit Antisemitismus im Klassenzimmer und auf dem Schulhof nicht unwidersprochen bleibt und damit die Betroffenen nicht alleine bleiben.

Zweitens. Wir müssen Antisemitismus sichtbar machen. Die Meldestelle muss jetzt endlich kommen – ebenso wie eine Dunkelfeldstudie Antisemitismus. Ich kann nicht nachvollziehen, warum die Meldestelle immer noch nicht da ist, obwohl sie seit über einem Jahr angekündigt wird.

(Beifall von den GRÜNEN)

Drittens. Wir müssen bestehende Projekte gegen Antisemitismus langfristig absichern. Es gab und gibt qualitativ sehr gute Projekte. Das interreligiöse Projekt „Ibrahim trifft Abraham“ wurde zu Recht vielfach gelobt. Aber die Förderung dafür ist ausgelaufen. Die Stadt Köln finanziert die Fachstelle „[m2] miteinander mittendrin“. Von solchen kommunalen Stellen brau­chen wir mehr in Nordrhein-Westfalen. Aber das wird nicht ohne die Beteiligung des Landes funktionieren.

Viertens. Wir müssen die politische Bildung stärken, weil Mündigkeit eine Auseinanderset­zung ermöglicht und weil politische Bildung auch eine präventive Wirkung haben kann. Ebenso können Gedenkstättenfahrten präventiv wirken, wenn – das ist mir wichtig – sie in­tensiv pädagogisch begleitet werden. Wir müssen Wissensvermittlung der Gründe für die Gründung des Staates Israels und den Nahostkonflikt in unseren Bildungsinstitutionen veran­kern.

Fünftens: das Thema „Repression und Schutz“. Für Fälle von konkreten antisemitischen Übergriffen müssen Schutzkonzepte der Polizei greifen. Antisemitismus muss strafrechtlich konsequent verfolgt werden. Damit Antisemitismus auch von Polizei und Justiz erkannt wird, braucht es eine Verankerung der Thematik in der Aus- und Fortbildung. Diese Liste ist nicht abschließend. Sie kann auch nicht abschließend sein. Dafür brauchen wir ja die politische Diskussion. Aber wichtig ist mir eines: Ebenso, wie es eine Kontinuität von Antisemitismus in Deutschland gibt, brauchen wir eine Kontinuität der Auseinandersetzung und der Bekämpfung des Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen. Wir müssen alles dafür tun, dass Jüdinnen und Juden sicher in Deutschland leben können.

Aber vor allem ist jüdisches Leben ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Das werden wir in diesem Jahr – 1.700 Jahre jüdisches Leben in Nordrhein-Westfalen – feiern. – Herzli­chen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

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