Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der massenhafte sexuelle Missbrauch an Kindern auf einem Campingplatz in Lügde und auch der aktuelle Fall mit Tatverdächtigen unter anderem in Bergisch Gladbach und in Kleve sind nur die Spitze eines Eisbergs. Das physische, aber auch das psychische Leid dieser Kinder, die von ihren engsten Vertrauenspersonen missbraucht wurden, ist für uns unvorstellbar und macht einfach nur fassungslos.
Angesichts von Lügde und Bergisch Gladbach sollten wir uns, denke ich, eins immer vor Augen führen: Nur die allerwenigsten Fälle erreichen eine solche öffentliche Aufmerksamkeit. Es darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder leider ein alltägliches Phänomen ist und auch alle gesellschaftlichen Schichten durchzieht.
Laut Zahlen des Bundeskriminalamtes waren im Jahr 2018 bundesweit über 14.000 Kinder Opfer von sexueller Gewalt. Das sind im Schnitt 40 Kinder pro Tag. Wir alle wissen, dass die Dunkelziffer hoch ist. Aus ganz verschiedenen Gründen werden diese Fälle nicht bekannt. Manche Kinder – das wissen wir auch in diesem aktuellen Fall – sind noch so klein, dass sie kaum oder gar nicht in der Lage sind zu verstehen, was für eine Gewalt es ist, die ihnen angetan wurde, und die auch gar nicht in der Lage sind, das zu verbalisieren.
Sexueller Missbrauch findet häufig im sozialen Umfeld statt. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf das Anzeigeverhalten. Ich denke, uns muss klar und wichtig sein, dass wir in Verbindung mit dem Themenfeld „sexueller Missbrauch“ auch die Kinderrechte stärken. Kinder müssen in die Lage versetzt werden, ihre Rechte zu kennen und auch Grenzverletzungen zu erkennen. Das heißt aber nicht, dass Kinder dafür verantwortlich sind, wenn sie sich keine Hilfe holen oder keine Hilfe holen können. Verantwortlich sind immer die Erwachsenen, nie die Kinder.
(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)
Vor diesem Hintergrund – die Erwachsenen sind verantwortlich – macht es mich fassungslos und es treibt mich um, dass Kinder in der Regel in Institutionen eingebunden sind und es trotzdem nicht auffällt.
Kinder sind in der Kita. Sie sind in der Schule. Sie sind im Sportverein. Sie sind in der Gemeinde. Trotzdem wird sexueller Missbrauch so oft nicht erkannt. Vielleicht will man ihn auch nicht erkennen oder schaut vielleicht bewusst nicht ganz so genau hin.
Kitas, Schulen und alle anderen Räume in unserer Gesellschaft müssen Schutzzonen für Kinder sein, in denen kein Missbrauch stattfindet. Diese Institutionen müssen aber auch Räume sein, in denen Missbrauch auffällt und den betroffenen Kindern Hilfe zukommt.
Das setzt natürlich eine entsprechende Aus- und Fortbildung der Fachkräfte und eine Entwicklung von Schutzkonzepten in allen Einrichtungen, in denen sich Kinder aufhalten, voraus.
Wir müssen von der Kultur des Wegguckens wegkommen. Wir brauchen dringend eine Kultur des Hinsehens und des Zuhörens bei sexueller Gewalt gegen Kinder.
Eine Kultur des Hinsehens und des Zuhörens heißt auch, dass von der Spitze des Eisbergs mehr aus dem Wasser ragt, mehr Fälle bekanntwerden und diesen Kindern Schutz zukommt. Genau das muss das Ziel sein.
Das bedeutet dann aber auch, dass wir ein dichteres Netz an Kinderschutzstrukturen in Nordrhein-Westfalen und flächendeckend entsprechende Beratungsstellen für Kinder und ihre Angehörigen brauchen. Wir brauchen mehr Therapiemöglichkeiten.
Wir brauchen aber auch Anlaufstellen für diejenigen, die mit Kindern arbeiten – sei es hauptamtlich, zum Beispiel in den Kitas oder in den Schulen, oder ehrenamtlich, zum Beispiel in den Sportvereinen. Auch diejenigen brauchen Beratung und Begleitung.
(Beifall von den GRÜNEN)
Machen wir uns nichts vor: Wenn wir es mit dem Kinderschutz ernst meinen – und ich denke, das tun alle hier Anwesenden –, müssen wir den politischen Druck beim Thema „Kinderschutz“ aufrechterhalten und für diese Strukturen entsprechende Finanzmittel zur Verfügung stellen.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Ich habe es schon einmal im Innenausschuss gesagt, bevor der Untersuchungsausschuss Lügde begann: Ich glaube, hierin liegt auch unsere Verantwortung als Abgeordnete.
Wir alle wissen, wie schnell politische Themen von den nächsten Themen, dem nächsten politischen Skandal überlagert werden. Das passiert ganz schnell; das wissen wir alle. Beim Thema „Kinderschutz“ darf uns das aber nie wieder passieren. Dafür sind wir alle verantwortlich.
(Beifall von den GRÜNEN und vereinzelt von der SPD)
Wir alle hier im Raum sind dafür verantwortlich, dass der Kinderschutz fraktionsübergreifend dauerhaft eine hohe Priorität genießt.
Ich bin froh, dass wir jetzt gemeinsam die Kinderschutzkommission einrichten. Uns Grünen war es von Anfang der Diskussion an wichtig, dass daraus eine dauerhafte Kommission wird, denn Kinderschutz ist eine Daueraufgabe.
Das konkrete Arbeitsprogramm muss sich die Kommission dann selbst erarbeiten und geben. Aus meiner Sicht sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass wir mit dem Thema „sexueller Missbrauch“ starten.
Dass sich diese Kommission mit dem Kinderschutz strukturell und abgekoppelt vom politischen Tagesgeschäft auseinandersetzt, ist, glaube ich, wirklich wichtig und ein hoher Mehrwert für dieses Thema.
Diese Kommission hat die Chance, den Kinderschutz fraktionsübergreifend weiterzuentwickeln und zu stärken. Diese Chance sollten wir gemeinsam mit der Kommission nutzen. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den Grünen, der CDU, der SPD und der FDP)