Der Antrag „Gewaltschutz für Frauen wirksam erweitern“
Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sprechen heute über ein wichtiges innenpolitisches Thema. Es geht um die Sicherheit der Hälfte der Bevölkerung. Jede dritte Frau in Deutschland erlebt mindestens einmal in ihrem Leben physische und/oder sexualisierte Gewalt. Jede vierte Frau erlebt mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt durch ihren Partner oder ihren Ex-Partner. Jeden Tag gibt es in Deutschland drei Versuche, eine Frau zu töten. Jeder dritte Versuch gelingt. Das heißt, statistisch gesehen gibt es jeden Tag in Deutschland einen Femizid.
All diese Taten richten sich nur gegen Frauen, weil sie Frauen sind. Ich finde diese Bedrohungslage gegen Frauen und Mädchen inakzeptabel. Neben einer konsequenten Strafverfolgung und einer konsequenten Ahndung dieser Straftaten braucht es auch die Hilfeinfrastruktur, die Frauenhäuser, die Beratungsstellen; denn sie retten und schützen Menschenleben, sie helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)
Die eigenen vier Wände, das eigene Zuhause sollte ein Ort der Sicherheit und der Geborgenheit sein. Wir wissen, dass das für viele Frauen und ihre Kinder in unserer Gesellschaft nicht der Realität entspricht. Gewalt hinter der eigenen Haustür betrifft Frauen und Kinder im städtischen Raum und im ländlichen Raum. Sie ist unabhängig vom Alter, unabhängig vom Einkommen der Täter oder der Opfer.
Gewalt gegen Frauen findet oft in den eigenen vier Wänden statt. Aber diese Gewalt ist niemals Privatsache. Es ist Aufgabe des Staates, Frauen und Mädchen vor Gewalt zu schützen. Deshalb ist das Gewalthilfegesetz wirklich ein Meilenstein. Durch das Gesetz erhalten Frauen einen Rechtsanspruch auf kostenfreien Schutz und kostenfreie Beratung. Das ist ein Paradigmenwechsel im Gewaltschutz. Es ist noch keine 50 Jahre her, dass das erste Frauenhaus in Westdeutschland eröffnete. Insbesondere der Frauenbewegung und ihrem Leitsatz: „Das Private ist politisch“, ist es zu verdanken, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder auch in der Öffentlichkeit diskutiert wird.
Seitdem hat sich viel getan, auch in Nordrhein-Westfalen. Wir haben hier ein ausdifferenziertes Hilfesystem. Jeden Tag finden in Nordrhein-Westfalen Frauen und ihre Kinder Schutz und Beratung in den Frauenhäusern, in den Frauenberatungsstellen. Sie finden Hilfe und Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt. Die Mitarbeiterinnen in diesen Hilfeeinrichtungen helfen jeden Tag und beraten jeden Tag mit ihrer fachlich hervorragenden Arbeit und begleiten Frauen und ihre Kinder in eine gewaltfreie und selbstbestimmte Zukunft.
Zu oft jedoch finden Frauen keinen Frauenhausplatz. Zu oft ist die Übersichtskarte der Frauenhausplätze in Nordrhein-Westfalen mit roten Symbolen versehen: kein Frauenhausplatz, keine Aufnahme möglich, keine Möglichkeit, ein Kind mitzubringen, keine barrierefreien Frauenhausplätze.
Zu oft trauen sich Betroffene von Gewalt nicht, über diese Gewalt zu sprechen. Zu oft ist die Scham zu groß, sich Hilfe zu holen. Wie viele andere Frauen auch bin ich Gisèle Pelicot dankbar, dass sie in dem Prozess über die beispiellose Gewalt, die ihr angetan wurde, klargestellt hat: Die Scham muss die Seite wechseln.
(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)
Nicht die Opfer, sondern die Täter müssen sich schämen.
(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und der SPD – Vereinzelt Beifall von der FDP)
Dieser nun gesetzlich verankerte Rechtsanspruch ist ein wichtiger, wenn auch ein erster Schritt, um mehr Schutz zu gewährleisten und um die Istanbul-Konvention endlich umzusetzen. In den kommenden Jahren muss der Ausbau der Gewalthilfestruktur folgen.
Wir haben in den vergangenen Jahren auch hier in Nordrhein-Westfalen vieles erreicht. Inzwischen sind 70 Frauenhäuser in der Landesförderung. Wir legen einen Fokus auf die Kinder in den Frauenhäusern, für die wir eine eigene Fachkraftstelle fördern.
Dass sich der Bund in über zehn Jahren mit 2,6 Milliarden Euro beteiligen wird, ist gut, und das ist angesichts der Haushaltslage in den Ländern und in den Kommunen dringend notwendig.
Das Gesetz verankert auch die Präventions- und die Täterarbeit. Damit legt das Gesetz einen Fokus auf diejenigen, von denen die Gewalt ausgeht. Es sind zumeist Männer, von denen diese Gewalt ausgeht. Deshalb braucht es neben der Strafverfolgung auch eine Auseinandersetzung mit einer falsch verstandenen Männlichkeit. Gewalt gegen Frauen hat nichts mit Männlichkeit zu tun. Das sind Straftaten, die verfolgt und geahndet werden müssen.
(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und der SPD)
Das Gewalthilfegesetz ist ein wichtiges Signal in einer Zeit, in der die Gewalt gegen Frauen in Deutschland steigt, in einer Zeit, in der Frauenrechte weltweit angegriffen werden, in einer Zeit, in der Frauen das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper immer noch abgesprochen wird.
Der Beschluss über das Gewalthilfegesetz zeigt, dass demokratische Parteien in der Lage sind, gemeinsam zu guten Lösungen zu kommen. Dafür braucht es die Solidarität und den Zusammenhalt unter Frauen. Es braucht auch die Zusammenarbeit mit Männern, die ganz klar sagen, dass sie wollen, dass ihre Mütter und Schwestern, ihre Töchter, ihre Arbeitskolleginnen, Nachbarinnen und Freundinnen ein selbstbestimmtes und gewaltfreies Leben haben können, und dass Gleichberechtigung eine Selbstverständlichkeit sein muss.
Das war vor drei Wochen so, als im Bundestag über den Mutterschutz nach Fehlgeburten entschieden wurde. Das war 1997 so, als der Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe eingeführt wurde.
Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam, Frauen und Männer im Parlament und in der Gesellschaft, weiter für die Rechte von Frauen und Mädchen streiten, damit Frauen und Mädchen eine gleichberechtigte Teilhabe in unserer Gesellschaft haben. – Vielen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und der SPD)