Verena Schäffer: „Jedes Kind hat das Recht darauf, ohne Diskriminierung, ohne Antisemitismus aufwachsen zu dürfen“

Zum Antrag der Fraktionen von CDU, SPD, FDP und GRÜNEN gegen Antisemitismus

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022

Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es war eine Tür, die vor drei Jahren sehr vielen Menschen das Leben rettete. Mehr als 50 Personen feierten hinter dieser Tür Jom Kippur, als ein Rechtsextremer versuchte, die Synagoge zu stürmen. Zum Glück hielt die Tür stand. Dennoch wurden bei diesem antisemitischen, antifeministischen, rassistischen und rechtsextremen Anschlag zwei Menschen getötet.

Drei Jahre später, an einem anderen Ort, wieder Schüsse auf eine Tür: die Tür des ehemaligen Rabbinerhauses neben der alten Synagoge in Essen.

Die Hintergründe sind noch nicht bekannt. Die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf als Zentralstelle für die Terrorismusverfolgung leitet nun die Ermittlungen.

Dass die Generalstaatsanwaltschaft von einer antisemitisch motivierten Tat ausgeht, ist richtig. Denn fest steht: Angriffe und Attentate auf jüdische Einrichtungen sind niemals unpolitisch; sie sind antisemitisch und müssen als solche auch verfolgt und geahndet werden.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Noch ein Ortswechsel und noch eine Tür: In Berlin wurde in der Nacht von Freitag auf Samstag an der Synagoge die Mesusa abgerissen, also die Kleine Pergamentrolle am Türrahmen jüdischer Häuser. Diese Angriffe auf die Türen jüdischer Einrichtungen stehen sinnbildlich für den Antisemitismus in Deutschland.

Diese drei Ereignisse sind nur ein Ausschnitt des Antisemitismus, den wir hier erleben. Im letzten Jahr hat die Polizei 437 Straftaten und damit einen Höchststand antisemitischer Delikte in Nordrhein-Westfalen verzeichnet. Und das ist nur das Hellfeld. Wir wissen, dass das Dunkelfeld wesentlich größer ist, weil Straftaten nicht zur Anzeige gebracht werden oder weil die Polizei vielleicht auch Straftaten nicht als antisemitisch erkennt und sie dann nicht in die Statistik einfließen.

Dazu kommen antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze. Insbesondere jüdische Kinder berichten uns immer wieder von Vorfällen in Klassenzimmern und auf Schulhöfen. Deshalb ist es richtig, dass wir die Dunkelfeldstudie und auch Studien zu Antisemitismus in der Schule durchführen, damit wir Präventionen verbessern können, damit wir Gegenmaßnahmen verbessern können.

Wir werden auch die Aus- und Fortbildung von Beschäftigten in Polizei, Justiz und Schule weiter verbessern, um die Bekämpfung von Antisemitismus voranzutreiben. Wir werden Lehrerinnen und Lehrer handlungssicherer machen im Umgang mit Antisemitismus in der Schule.

Denn – und das finde ich wichtig – jede und jeder in unserer Gesellschaft muss sich darauf verlassen können, dass die Strafverfolgungsbehörden konsequent gegen Antisemitismus vorgehen. Und jedes Kind hat das Recht darauf, ohne Diskriminierung, ohne Antisemitismus aufwachsen zu dürfen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Wir haben in den letzten Jahren viel erreicht, wir haben es gemeinsam erreicht hier in Nordrhein-Westfalen: mit der Einrichtung der Stelle der Antisemitismusbeauftragten, mit der Förderung der beiden Antidiskriminierungsstellen mit dem Schwerpunkt Antisemitismus, SABRA und ADIRA, mit der Einrichtung der Meldestelle RIAS, mit den Antisemitismusbeauftragten in der Justiz. Damit haben wir strukturelle Maßnahmen ergriffen. Mit den verschiedenen Studien werden wir auch die Erkenntnislagen über den Antisemitismus weiter verbessern.

Aber: Das ist nicht genug. Das Erreichte ist nicht genug. Das zeigen uns ja die Schüsse auf die Synagoge in Essen, der geplante Anschlag auf die Synagoge in Hagen, die Schändung jüdischer Friedhöfe, der traurige Höchststand von Straftaten im letzten Jahr, die Antisemitismuserfahrungen von Jüdinnen und Juden.

Deshalb: Wir müssen besser werden, um Menschen vor Diskriminierung und Gewalt in unserer Gesellschaft zu schützen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Antisemitismus bleibt ein Kernelement des Rechtsextremismus und des Islamismus. Israelbezogener Antisemitismus taucht in linken Milieus auf und reicht weit bis in die Mitte der Gesellschaft. Auch der sekundäre Antisemitismus, der ja die Auseinandersetzung mit der Shoa verhindert, ist weit verbreitet.

Aktuelle Verschwörungsmythen greifen genau diesen Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft auf. Man muss eigentlich sagen, der Antisemitismus ist seit der Antike mit der Ritualmordlegende, mit der Brunnenvergiftung eigentlich an sich schon eine einzige Verschwörungserzählung.

Weil aktuelle Verschwörungsmythen, Verschwörungserzählungen so anspruchsfähig sind bis in die Mitte der Gesellschaft, sind sie auch so gefährlich. Sie verbreiten sich, und sie führen zu tödlichen Anschlägen. Wir haben das gesehen bei den rechtsextremen Attentätern von Oslo und Utøya, von Christchurch, von Halle und von Hanau. Da haben Verschwörungsmythen eine sehr große Rolle gespielt.

Deshalb glaube ich, dass die aktuelle Verbreitung von Verschwörungsmythen eine der größten Herausforderungen bei der Bekämpfung des Antisemitismus ist.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Also lassen Sie uns gemeinsam diese Herausforderung angehen. Es hilft ja nichts. Wir müssen besser werden, wir müssen diese Herausforderungen annehmen: mit Aufklärung und Prävention, mit deutlichem Widerspruch bei antisemitischen Äußerungen, mit der Einbeziehung und Beachtung der Betroffenenperspektive, mit bestmöglich aus- und fortgebildeten Beschäftigten in den Strafverfolgungsbehörden.

Vor drei Jahren hat die Tür der Jüdischen Gemeinde in Halle vielen Menschen das Leben gerettet. Jeden Tag schützen Türen von Sicherheitsschleusen Kita-Kinder, Schülerinnen und Schüler, Seniorinnen und Senioren und viele andere Mitglieder der Jüdischen Gemeinden. Für jüdische Kinder ist es Teil ihrer ganz alltäglichen Normalität.

Ich wünsche mir, dass diese Normalität irgendwann der Vergangenheit angehört, dass starke Türen, Sicherheitsschleusen, Polizeiwagen vor den Eingängen jüdischer Einrichtungen irgendwann nicht mehr nötig sind, dass jüdisches Leben nicht geschützt hinter verschlossenen Türen stattfinden muss, dass jüdische Kinder einfach in ihre Kita laufen können. Ich will, dass Jüdinnen und Juden frei und ohne Angst in unserer Gesellschaft leben können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen, ich weiß, dass wir dieses Ziel teilen. Deshalb lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. Wir tragen gemeinsam Verantwortung, genau dafür zu sorgen. – Vielen Dank.

(Lebhafter Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)