Verena Schäffer: „In aller erster Linie sind wir den Opfern die Aufarbeitung schuldig“

Zum Zwischenbericht des PUA IV (Kindesmissbrauch)

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022

Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die Reden meiner Vorredner haben bereits sehr deutlich gemacht, dass die Arbeit im Untersuchungsausschuss oftmals wirklich anstrengend war und wir alle immer wieder furchtbare Bilder mit Nachhause genommen haben. Ich bin trotzdem davon überzeugt, dass sich die Arbeit im Untersuchungsausschuss wirklich gelohnt hat und unglaublich wichtig war.

In aller erster Linie sind wir den Opfern die Aufarbeitung schuldig. Ich möchte, dass die Betroffenen vielleicht nicht heute, sondern irgendwann später oder auch erst in zehn, zwanzig Jahren wissen, dass wir ihr Leid sehen und es uns leidtut, dass staatliche Strukturen sie nicht geschützt haben, als der Staat sie hätte schützen müssen.

Die Daten und Fakten sind bekannt; sie wurden heute schon mehrfach genannt. Mehr als 30 Kinder wurden auf einem Campingplatz in Lügde von zwei Haupttätern über einen langen Zeitraum hinweg Opfer von sexuellem Missbrauch. Wenn man die Akten und insbesondere die Protokolle von den Zeugenvernehmungen liest, dann werden die Kinder mit ihren Geschichten hinter diesen Opferzahlen sichtbar.

Wir haben uns lange mit dem Fall Ramona Böker beschäftigt. Dieses junge Mädchen war schon in einem sehr jungen Alter regelmäßig auf dem Campingplatz, bis sie irgendwann vollständig bei dem Haupttäter einzog und ihm rund um die Uhr schutzlos ausgeliefert war.

Wir haben uns den Fall Daniel Wittfry angesehen. Das ist ein Mädchen, dessen Vater wegen vielfachem Kindesmissbrauch verurteilt war, und das viele Wochenenden bei dem Täter Mario S. in Lügde verbrachte.

Besonders bewegt hat uns auch das Schicksal von Ernst Gruber, der jahrelang von Mario S. schwer missbraucht wurde und später selbst ein anderes Kind missbrauchte.

Alle drei Kinder waren dem Jugendamt bekannt. Es waren Familienhilfen installiert, es wurden Jugendhilfepläne aufgestellt, und obwohl es immer wieder und zum Teil sehr konkrete Hinweise gab, wurde das nicht erkannt. Das Leid der Kinder wurde nicht beendet.

Wir wissen – das wurde heute auch schon deutlich –, dass Kindesmissbrauch in unserer Gesellschaft, in der Mitte der Gesellschaft vorkommt. In jeder Schulklasse sind etwa ein bis zwei Schülerinnen und Schüler von sexueller Gewalt betroffen oder waren es.

Bei den Fällen, die wir uns im Untersuchungsausschuss näher angeschaut haben, war die Besonderheit, dass die Jugendämter in den Familien waren. Sie kannten die Familien und ihre Problemlagen. Obwohl die Kinder dem Staat also bekannt waren und es immer wieder Hinweise gegeben hat, ist der Missbrauch nicht aufgedeckt worden. Deshalb finde ich, dass man im Zusammenhang mit Lügde ganz klar von einem Behördenversagen sprechen muss.

Wir haben uns mit den Jugendämtern intensiv beschäftigt, und gewisse Muster haben sich wiederholt, obwohl es unterschiedliche Jugendämter waren. Deshalb finde ich es richtig, hier auch von einem strukturellen Versagen zu sprechen.

Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jugendämtern fehlten Kenntnisse über Täterstrategien und Anzeichen von sexualisierter Gewalt. Darüber hinaus wurden die Täter sogar als stabilisierende Faktoren für die Familien gesehen.

Der Verdacht auf sexualisiert Gewalt war durchaus vorhanden. Wir haben allerdings immer wieder den Eindruck gewonnen, dass dieses Thema wie ein Elefant im Raum stand und nicht konkret ausgesprochen wurde, obwohl es die konkreten Hinweise darauf gab.

Mich hat am meisten der Umstand bewegt, dass die Kinder von den Jugendämtern nicht angehört wurden. Zum Teil wurde die Notwendigkeit, das betroffene Kind bei einer Kindeswohlgefährdung zu hören oder es bei der Erarbeitung eines Jugendhilfeplans einzubeziehen, sogar gar nicht erst gesehen. Auch das wurde bei den Zeugenvernehmungen im Untersuchungsausschuss deutlich.

Ich habe mich bei den Vernehmungen im Untersuchungsausschuss und beim Lesen der Akten oft gefragt, an wen sich die Kinder eigentlich hätten wenden können. Denn sie wurden ja nicht einmal von dem Amt, das als Wächteramt des Staates fungiert, ernst genommen und angehört.

Ich finde, es ist eine der wichtigsten Lehren auch aus diesem Untersuchungsausschuss, dass wir Kinder immer ernst nehmen müssen. Kinder müssen in allen Verfahren, die sie betreffen, tatsächlich beteiligt und angehört werden. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, die wir aus dem Untersuchungsausschuss ziehen müssen.

In der Debatte ist auch schon deutlich geworden, dass wir das Behördenhandeln von Polizei und Justiz noch nicht umfänglich aufarbeiten konnten. Wir haben allerdings einige Erkenntnisse gewonnen.

Klar ist, dass die Hinweise zu dem Verhalten von Andreas Vetten in Bezug auf Ramona Böker auch an die Polizei gingen. Die Polizei ist diesen Hinweisen aber nicht ausreichend nachgegangen.

Nach dem Bekanntwerden der Taten war die kleine Kreispolizeibehörde Lippe mit den Ermittlungen leider hoffnungslos überfordert. Zwischen dem Eingang der Anzeige gegen Andreas Vetten und der Anregung eines Haftbefehlsantrags verstrich wertvolle Zeit.

Von der Inobhutnahme des Pflegekindes bis zur Festnahme des Täters verging knapp ein Monat, und es ist möglich bzw. zumindest nicht ausgeschlossen, dass der Täter Beweise vernichten konnte.

Die Vernehmungen der Kinder mussten zum Teil wiederholt und Durchsuchungen mehrfach durchgeführt werden. Bei der Tatortsicherung wurden Fehler gemacht. Die verloren gegangenen Asservate stehen sinnbildlich für die chaotische Ermittlungsführung durch die Kreispolizeibehörde Lippe.

Die Kreispolizeibehörde Lippe hat ihre Überforderung nicht an das Innenministerium kommuniziert. Umgekehrt haben aber auch Landeskriminalamt und Innenministerium als oberste Fachaufsicht nicht nachgehakt. Aus meiner Sicht – und das ist meine Bewertung – ist es so, dass die Landesbehörden hätten wissen können und müssen, dass eine kleine Behörde wie Lippe allein schon mit der Anzahl der Opfer und den komplexen Ermittlungen schlichtweg überfordert ist.

Ich möchte auch eine persönliche Bewertung ziehen, welche Rolle die Tatsache spielt, dass die Kreispolizeibehörde Lippe eine kleine Landratsbehörde ist. Selbstverständlich können – das möchte ich deutlich sagen – die Landratsbehörden, die kleinen Polizeibehörden eine hervorragende Arbeit leisten. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir in dem Untersuchungsausschuss gesehen haben, dass eine kleine Behörde mit wenig Personal, mit wenig Spezialisierung und mit wenig Erfahrung bei komplexen Ermittlungen schneller an ihre Grenzen stößt.

Die Bereiche „Polizei“ und „Justiz“ konnten wir nicht in dem Umfang aufarbeiten, wie wir das wollten und gerne getan hätten. Deshalb bin ich froh, dass wir uns unter den demokratischen Fraktionen einig sind, dass der Untersuchungsausschuss in der nächsten Legislaturperiode wieder eingesetzt werden muss.

Wir sind es den Opfern schuldig, das Behördenversagen aufzuarbeiten. Wir sind es aber auch allen Kindern und Jugendlichen schuldig, mit der Aufarbeitung Aufmerksamkeit für das Thema zu schaffen, weitere Handlungsempfehlungen zu erarbeiten und Veränderungen anzustoßen, weil wir alles dafür tun müssen, Missbrauch in Zukunft zu verhindern bzw. zumindest dafür zu sorgen, dass das nicht mehr so leicht möglich ist, gesehen und möglichst verhindert wird.

Zum Schluss meiner Redezeit will ich Danke sagen. Es ist nicht ganz selbstverständlich, einen PUA-Zwischenbericht zu erstellen, dem alle zustimmen können, und bei dem die demokratischen Fraktionen keine Sondervoten schreiben, weil sie sich alle in den Bericht wiederfinden können. Ich finde, das ist wirklich ein sehr gutes Ergebnis, und ich bin froh, dass wir das geschafft haben.

Deshalb möchte ich hier noch einmal explizit allen Obleuten, die das möglich gemacht haben, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Fraktionen und in der Verwaltung Danke sagen. Ich weiß, wie wahnsinnig viel Arbeit das war. Ich weiß auch, dass es Ihnen genauso ging wie uns. Wir haben die Geschichten immer wieder mit Nachhause genommen und konnten sie nicht einfach an der Bürotür hinter uns lassen.

Uns alle bewegt das sehr, und es wird heute noch einmal deutlich, was es heißt, in so einem Themenfeld zu arbeiten. Ich will aber auch sagen: Es sind die Kinder, die diese Taten erlebt haben. Wir sollten manchmal also das, was wir erleben und mitnehmen, nicht zu hoch gewichten. Dennoch ist es wichtig, das anzusprechen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch einmal Danke zu sagen.

Martin Börschel, ich möchte insbesondere dir noch mal Danke sagen. Du bist irgendwann zu dem Untersuchungsausschuss dazugekommen. Du hast die Leitung übernommen, und ich finde, dass du das wahnsinnig gut gemacht hast und es auch dein Verdienst ist, dass wir heute an diesem Punkt stehen, wo wir stehen, und wir in dieser kurzen Zeit auch viel geschafft haben. Wir haben nicht alles geschafft, aber wir haben viel aufgearbeitet. Auch das darf man hier anerkennend sagen.

Die Arbeit geht weiter, dann leider ohne dich. Aber ich wünsche dir wirklich von Herzen alles Gute für deinen weiteren Weg. Vielen Dank dafür, dass du diesen Untersuchungsausschuss geleitet und auch viel Zeit und Energie hineingesteckt hast. Vielen Dank dafür.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP und Nic Peter Vogel [AfD])