Verena Schäffer: „Der Erfolg Ihres Handelns bemisst sich nicht an der Anzahl von Razzien, sondern an der Reduktion von Straftaten“

Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktionen von CDU und FDP zur Clankriminalität

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022

Verena Schäffer (GRÜNE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. Liebe Kolleginnen und Kollegen! – Lieber Herr Golland, lieber Herr Lürbke, mir drängt sich der leise Verdacht auf, dass Sie einem sehr großen Irrtum unterlegen sind. Die reine Anzahl der Razzien sagt nichts, wirklich gar nichts, über den Erfolg von Kriminalitätsbekämpfung aus.
(Beifall von den GRÜNEN)
Die entscheidende Frage ist doch: In wie vielen Fällen kam es zu Anklagen, vor allem aber zu Verurteilungen? – Herr Reul, genau das ist die Währung, in der Sie liefern müssen, und daran werden Sie sich auch messen lassen müssen.
(Ralf Witzel [FDP]: Wie ist denn Ihre Bilanz?)
Derzeit – und das hat der Kollege Hartmut Ganzke gerade schon gesagt – haben Polizei und Justiz noch nicht einmal dieselbe Definition von diesem Kriminalitätsphänomen. Wie auch?
Clankriminalität ist bisher nichts weiter als ein Arbeitsbegriff der Polizei und ein politischer Kampfbegriff der CDU und der FDP.
(Beifall von den GRÜNEN – Ralf Witzel [FDP]: Das ist ja bezeichnend!)
Der Begriff „Clankriminalität“ ist nicht legal definiert – das sagen die Behörden auch selbst. Das Justizministerium kann noch nicht einmal Antworten zu den Fragen nach den Ergebnissen der Razzien liefern. Wie viele Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet? In wie vielen Fällen wurde Vermögen abgeschöpft? Wie viele Waffen wurden sichergestellt? Wie viele Haftbefehle wurden angeordnet? – Das alles kann nicht beantwortet werden.
Ich frage mich, auf welcher Basis Sie eigentlich zu dem Schluss kommen, so selbstherrlich behaupten zu können, dass Ihre Strategie erfolgreich sei. Das frage ich mich.
(Ralf Witzel [FDP]: Was war denn Ihre Strategie?)
– Dass es eine Strategie gegen die sogenannte Clankriminalität geben muss, Herr Witzel, ist unbestritten.
(Zuruf von der FDP)
Herr Lürbke, ich habe den Lagebericht des LKA gelesen, auch im Ausschuss haben wir darüber diskutiert. In diesem Lagebericht geht das LKA davon aus, dass etwa ein Drittel der angeführten Straftaten Hoheitsdelikte sind. Dazu gehören Raub, schwere Körperverletzungsdelikte und Gewaltdelikte.
Folgendes als Einschub: Wir sprechen hier immer von einer Eingangsstatistik. Eigentlich bräuchten wir eine Verlaufsstatistik, die verzeichnet, wie viele dieser Fälle zu einer Anklage und Verurteilung der Täter führen.
Dennoch will ich deutlich sagen, dass die im Lagebericht angeführten Straftaten und die Gewaltbereitschaft erschreckend sind und wir das nicht hinnehmen können.
(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)
Dafür braucht es aber eine Gesamtstrategie.
(Beifall von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])
Diese Gesamtstrategie hat die Landesregierung bisher ganz offenbar nicht.
(Gregor Golland [CDU]: Sie hatten überhaupt keine Strategie!)
Ich habe mir in Vorbereitung auf die Diskussion heute den Zwischenbericht der Bosbach-Kommission angeschaut.
(Zuruf von Michael Hübner [SPD])
In der gibt es durchaus ein paar interessante Empfehlungen: zum Beispiel den Aufbau eines strategischen Innovationszentrums zur Organisierten Kriminalität mit einem Team aus Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten und Vertreterinnen und Vertretern der Wissenschaft; oder die verstärkte Einrichtung von spezialisierten Kommissariaten für den Bereich der Organisierten Kriminalität; oder die Verbesserung der Kommissionsfähigkeit – ein Thema, das wir im Zusammenhang mit Lügde diskutiert haben –; oder die Schaffung von Qualifizierungsmöglichkeiten für eine Spezialisierung.
Das alles sind spannende Punkte, die wir diskutieren müssen. Das setzt aber voraus, dass entsprechend Personal zur Verfügung gestellt wird.
Damit, Herr Reul, meine ich nicht, dass man Personal für die Einsatzhundertschaften zur Verfügung stellt, die die Razzien durchführen. Vielmehr meine ich Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, die über eine längere Dauer in den Aufbauorganisationen in den Kommissariaten tätig sind.
(Beifall von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE] und Josefine Paul [GRÜNE])
Wenn Ihnen die Bekämpfung der Clankriminalität so wichtig ist, dann reichen, mit Verlaub, Razzien und PR-Termine allein nicht aus.
Dann müssen Sie die Behörden im Ruhrgebiet entsprechend mit Personal ausstatten. Das ist Ihre Aufgabe, Herr Reul.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich will auch noch einmal auf Punkt 2 des Zwischenberichts der Bosbach-Kommission eingehen, nämlich: Ausbau der Integrationsbemühungen und Entwicklung von Aussteigerprogrammen. So steht es im Zwischenbericht der Kommission. Das ist an sich überhaupt keine neue Erkenntnis. Auch der Innenminister hat schon vor Monaten angekündigt, tätig zu werden. Nur: Passiert ist bislang überhaupt nichts.
Wir müssen doch aber gerade diejenigen erreichen, die zum Teil in dritter Generation hier leben, hier geboren sind und kaum Perspektiven haben, weil sie eben nur geduldet sind. Da wissen schon die Kinder im jüngsten Alter, dass sie in der völligen Perspektivlosigkeit aufwachsen werden.
Natürlich – das will ich hier auch noch einmal deutlich sagen – ist Perspektivlosigkeit keine Rechtfertigung für Straftaten.
(Beifall von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])
Aber man kann auch nicht ignorieren, dass Perspektivlosigkeit Kriminalität begünstigt. Deshalb müssen wir da ran.
Ich will hier auch sagen, dass der inflationär verwendete Begriff „Clankriminalität“, der ja zumindest sprachlich alle Familienmitglieder unter Generalverdacht stellt, auch zur Stigmatisierung führen kann. Das finde ich problematisch. Ich finde, Herr Golland, dessen muss man sich dann zumindest bewusst sein.
(Beifall von den GRÜNEN – Michael Hübner [SPD]: Der ist doch gar nicht da! Wo ist denn Herr Golland?)
Herr Reul, Sie haben ja immer gesagt, Sie wollen ein Aussteigerprogramm machen. Wie gesagt, bisher ist nicht viel passiert. Aber ich glaube, dass der Begriff „Ausstieg“ es auch nicht so wirklich trifft. Es muss doch eigentlich darum gehen, den Einstieg in Kriminalität zu verhindern.
Deshalb meine ich, dass nicht nur Herr Reul gefragt ist, sondern zum Beispiel auch Herr Stamp, der heute auch da ist und hier sitzt. Herr Stamp, ich habe Sie zuerst nicht gesehen; es tut mir leid. Ich habe nach links geguckt, aber Sie sitzen auf der anderen Seite. Es tut mir leid, Herr Stamp, aber schön, dass ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit habe.
(Beifall von den GRÜNEN)
Denn ich finde, es ist Ihre Aufgabe als Integrationsminister, an dieser Stelle für dauerhafte Lösungen zu sorgen, wenn es um diese jungen Menschen geht. Sie müssen dafür sorgen, dass diese jungen Menschen eine Perspektive bekommen.
Eines will ich hier zum Schluss noch einmal festhalten: Der Erfolg Ihres Handelns in diesem Themenbereich bemisst sich nicht an der Anzahl von Razzien, sondern an der Reduktion von Straftaten. Wir haben gerade die Halbzeit der Regierung. Alle schreiben Halbzeitbilanzen. Ich denke, wir dürfen gespannt sein, wann Sie in diesem Bereich dann endlich liefern.
(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Marc Lürbke [FDP])

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