Verena Schäffer: Das Parlament ist die Herzkammer der Demokratie“

Unterrichtung der Landesregierung über aktuellen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie

Portrait Verena Schäffer Linda Hammer 2022

Verena Schäffer (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bedrohlich steigenden Infektionszahlen zeigen uns, dass es dringenden Handlungsbedarf gibt. Das wissen auch die allermeisten Bürgerinnen und Bürger. Sie haben Verständnis für die sehr einschneidenden Maßnahmen, obwohl es sie wieder an die Grenzen der Belastbarkeit bringen wird.
Wir dürfen die Unterstützung und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger bei diesem gemeinsamen Ziel, die Infektionszahlen zu senken und das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu bewahren, nicht verlieren. Ich bin davon überzeugt, dass wir diese Akzeptanz in der Bevölkerung nur erhalten und stärken können, wenn wir die Entscheidungen aus den Verhandlungszimmern, aus aus den Videokonferenzen der 16 Länderchefs und der Kanzlerin herausholen und hier im Parlament öffentlich und transparent diskutieren.
Denn das Parlament ist die Herzkammer der Demokratie. Hier ist der Ort für Wort und Widerwort. Hier muss das Ringen um die besten Lösungen stattfinden.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ja, ich sehe auch uns als Oppositionsfraktion in der Verantwortung. Wir Grüne haben immer deutlich gemacht, dass wir kritisch und konstruktiv das Regierungshandeln begleiten werden. Denn wir alle tragen Verantwortung für den Schutz unserer Bevölkerung und insbesondere für die Risikogruppen sowie dafür, eine Überforderung des Gesundheitssystems zu verhindern.
In den täglichen Lageberichten zu Corona, die wir vom MAGS erhalten, kann man seit Tagen beobachten, dass die Fallzahlen in den Krankenhäusern deutlich ansteigen. Seit Tagen ist die NRW-Karte dunkelrot eingefärbt, und wenn ich darüber nachdenke, dass wir über Inzidenzwerte von 35 oder 50 als Schwellenwerte für neue Maßnahmen diskutiert haben, dann erscheint dies aus der heutigen Perspektive fast absurd, so hoch sind die Zahlen inzwischen.
Dass etwas passieren muss, um dem Virus zu begegnen, ist aus meiner Sicht völlig unstreitig. Es ist höchste Zeit, zu handeln. Umso weniger ist das Getöse von Christian Lindner und Teilen der FDP nachvollziehbar,
(Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD])
und ich finde es auch nicht glaubwürdig, wenn Lindner im Bundestag hart kritisiert, die FDP-Fraktion hier aber zustimmt. Wenn dann wenigstens Alternativvorschläge kämen, wie man mit den hohen Infektionszahlen umgehen kann! – Ich muss ganz ehrlich sagen: Dieser Auftritt der FDP derzeit hat für mich wenig mit verantwortungsvoller Politik zu tun.
(Beifall von den GRÜNEN und Lisa-Kristin Kapteinat [SPD])
Klar ist aber auch: Im Gegensatz zum März sind wir heute weiter. Wir wissen mehr darüber, wie sich das Virus verbreitet, und wir wissen, dass Alltagsmasken wirken. Gerade deshalb ist die Kritik an einer pauschalen Schließung in den Bereichen der Gastronomie, der Kultur und des Sports durchaus nachvollziehbar. Die Betreiber von Restaurants und Cafés, die Soloselbstständigen, die Theatermacher, die Kinobesitzer fragen doch zu Recht, weshalb sie im Sommer an ausgefeilten Hygienekonzepten gearbeitet haben und in Schutzmaßnahmen investiert haben, wenn sie jetzt doch diejenigen sind, die als Erste wieder dichtmachen müssen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Zur Wahrheit gehört auch, dass wir nicht mehr mit Bestimmtheit sagen können, wo die Ansteckungsorte sind. Aus der Erkenntnis, dass viele Infektionen auf den privaten Bereich zurückzuführen sind, kann meines Erachtens umgekehrt nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass es etwa im Theater oder in der Straßenbahn kein Ansteckungsrisiko gibt. Wir wissen es schlichtweg nicht.
Natürlich hat das inzwischen auch – nicht nur, aber auch – etwas mit der Überforderung der Gesundheitsämter zu tun, weil nicht mehr jeder Kontakt zurückverfolgt werden kann. Jetzt ist endlich Geld für mehr Personal in den Gesundheitsämtern da, aber ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich nicht nachvollziehen kann, warum man nicht früher in die personale Aufstockung und in die digitale Ausstattung der Gesundheitsämter investiert hat.
Herr Laumann und Herr Laschet, ich finde, dass Sie an dieser Stelle Ihre Verantwortung vernachlässigt haben. Sie hätten hier Vorsorge treffen müssen. Die personelle Ausstattung der Gesundheitsämter ist doch ein Beispiel dafür, dass diese Landesregierung endlich vom Krisenmodus wegkommen und ein Vorsorgemanagement betreiben muss.
(Beifall von den GRÜNEN)
Herr Laschet, es würde schon helfen, endlich den vorgehaltenen Krisenstab der Landesregierung zu aktivieren. Wir müssen ihn gar nicht erst einrichten, sondern den gibt es ja. Es gibt einen Krisenstab. Alle Bezirksregierungen, alle Kreise, alle kreisfreien Städte haben ihre Krisenstäbe längst aktiviert. Insgesamt sind es 58 Krisenstäbe in diesem Land, die die Arbeit koordinieren. Nur ausgerechnet ein Krisenstab tagt nicht: der Krisenstab der Landesregierung.
Das steht sinnbildlich für das Krisenmanagement dieser Landesregierung. Herr Laschet, nutzen Sie die Kompetenz Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Krisenstab! Das würde insbesondere der bisher chaotischen Kommunikation mit den Kommunen abhelfen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich möchte an die Zeit im Frühjahr zurückerinnern. Es war eine Zeit, die sehr geprägt war von Solidarität in der Gesellschaft. Diese Solidarität brauchen wir jetzt wieder. Solidarität zu zeigen, heißt für mich neben dem Schutz von Risikogruppen auch Solidarität mit denjenigen, die besonders von der Krise betroffen sind. Das sind diejenigen, die am Montag nicht mehr auf der Bühne stehen, die ihre Cafés, ihre Tanzschulen, ihre Kinos schließen müssen. Für viele ist das wirklich eine bedrohliche Krise.
Deshalb müssen die angekündigten Hilfen für Betriebe und für Selbstständige jetzt wirklich ankommen. Sie müssen schnell und unbürokratisch sein. Insbesondere die Soloselbstständigen gehörten zu den ersten, die durch die Einschränkungen im März ihren Betrieb einstellen mussten, und sie sind diejenigen, die im November keinen einzigen Euro Umsatz erzielen können.
Wir Grüne haben von Beginn an einfache und transparente Unterstützungsmaßnahmen vorgeschlagen, damit niemand durchs Raster fällt. Deshalb muss nun endlich der Unternehmerlohn für Soloselbstständige und Freiberufler kommen. Auch das ist für mich ein Ausdruck von Solidarität.
(Beifall von den GRÜNEN)
Wer in dieser Krise aber wieder einmal vergessen wird – sie sind auch heute überhaupt noch nicht benannt worden –, sind die Studierenden. Das Überbrückungsgeld des Bundes, das wegen der hohen Anforderungen auch schon zuvor viel zu wenige Studierende erreicht hat, ist zu Beginn dieses Monats ausgelaufen. Wenn ab Montag die Cafés schließen und wenn auch in vielen anderen Bereichen, in denen Studierende Nebenjobs haben, geschlossen wird, dann wird das zu einem echten Problem.
Die Studierenden gehören ohnehin schon zu einer Gruppe, die hart getroffen wird, wenn Auslandssemester verschoben werden, wenn vorgeschriebene Praktika nicht durchgeführt werden können. Wenn dann noch Studierende aus finanziellen Gründen ihr Studium abbrechen müssen, dann trifft es aus meiner Sicht auch ganz empfindlich die Generationengerechtigkeit in diesem Land. Hier erwarte ich von der Landesregierung, dass sie endlich Programme auflegt und die Studierenden in Not absichert.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich finde, dass zur Generationengerechtigkeit auch die Frage gehört, wie wir mit Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen in unserer Gesellschaft umgehen. Ich bin erleichtert, dass es inzwischen einen politischen Konsens darüber gibt, dass Kinder, Jugendliche und ältere Menschen nicht erneut zu den Leidtragenden dieser Pandemie werden dürfen. Dazu gehört auch, dass Möbelhäuser nicht wichtiger sind als Kitas und Spielplätze. Natürlich ist die Bildungsgerechtigkeit ein Argument. Das andere wichtige Argument ist aber der Kinderschutz.
Was mir in der Debatte häufig ebenfalls fehlt: Auch die Gesundheit der Eltern ist ein Thema. Die Monate März bis Mai dieses Jahres waren für viele Eltern mit kleinen Kindern ohne jegliche Betreuungsinfrastruktur eine verdammt harte Zeit. Ich weiß, wovon ich spreche. Wenn dann noch berufliche Existenzängste dazukommen, war das wirklich eine verdammt harte Zeit für diese Familien. Deshalb muss es in dieser schwierigen Zeit auch Solidarität mit diesen Familien geben.
(Beifall von den GRÜNEN)
Wir wissen, dass es natürlich auch in Kitas und Schulen zu Ansteckungen kommen kann. Das ist ja klar. Deshalb ist es für mich eine Frage der gesellschaftlichen Prioritätensetzung, welche Einrichtungen geöffnet bleiben können und welche nicht. Das entbindet die Landesregierung aber nicht von der Verantwortung gegenüber Erzieherinnen und Erziehern und Kindern in den Kitas sowie gegenüber Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften in den Schulen.
Die Landesregierung muss im Bereich der Schule nachlegen. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Schulministerin auch Ende Oktober zum Beispiel noch keine Strategie für kleinere Lerngruppen hat oder warum es keine Förderrichtlinie für die Förderung von Luftfilteranlagen gibt. Es ist ja schön, wenn Geld bereitgestellt wird, aber dann müssen auch die Förderrichtlinien veröffentlicht werden, damit es endlich an die Anschaffung gehen kann.
Insgesamt hinterlässt die Schulministerin den Eindruck, als wäre sie vom Herbst gnadenlos überrascht worden. Aber wie kann das eigentlich sein? Zu Beginn der Pandemie haben zahlreiche Expertinnen und Experten vorausgesagt und uns davor gewarnt, dass es eine zweite Welle im Herbst geben wird.
Denken wir an den März und an das Frühjahr zurück: Schon im Frühjahr hat die Schulministerin die Osterferien nicht genutzt, um sich auf eine Öffnung der Schulen vorzubereiten. Im Sommer ist nichts passiert. In den Herbstferien ist nichts passiert. Da muss ich sagen: Frau Ministerin, mit dieser Arbeitsverweigerung gefährden Sie auch den Zusammenhalt und die Akzeptanz von Maßnahmen. Ich finde das nicht in Ordnung und fordere Sie auf, endlich tätig zu werden.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich habe gerade von der Prioritätensetzung gesprochen, welche Einrichtungen offenbleiben und welche geschlossen werden müssen. Dabei geht es auch um die Bewohnerinnen und Bewohner in den Alten-, Pflege- und Behinderteneinrichtungen. In den Heimen darf es nicht wieder zu einer Isolierung von Bewohnern kommen.
Wir Grüne haben schon im Mai eine Teststrategie gefordert. Wenn es jetzt eine regelmäßige Testung von Personal, Bewohnern und Besuchern sowie Schutzkleidung geben soll, ist das gut; aber das muss auch tatsächlich in den Einrichtungen ankommen und dort auch umgesetzt werden.
Ich hoffe, dass wir bei einem sehr wichtigen Punkt einen fraktionsübergreifenden Konsens haben: Diese Pandemie darf nicht wieder zur Vereinsamung führen; auch das ist für mich in Bezug auf ältere Menschen eine Frage von Generationengerechtigkeit.
Ein Punkt fehlt bislang in der Debatte. Herr Laschet, ich muss Ihnen ehrlich sagen: Diese Frage haben Sie nicht beantwortet und dazu auch nichts gesagt. Es ist völlig ungeklärt. Auch im Beschluss der MPK fehlen nämlich die Antworten auf die Fragen, wie es eigentlich ab dem 1. Dezember 2020 weitergeht.
Wie verhindern wir denn, dass es nicht zu einer dritten oder vierten Welle kommt? Was ist denn, wenn die Maßnahmen, die ab nächstem Montag eingeleitet werden, eben nicht den gewünschten Effekt haben und die Zahl der Neuinfektionen bis Dezember nicht sinkt? Was ist denn der Plan der Landesregierung? Wie gehen wir dann weiter damit um?
Ich erwarte von der Landesregierung auch, dass sie die nächsten vier Wochen nutzt, um Konzepte für ein Leben mit dem Virus vorzulegen, denn unsere Gesellschaft und unser Land können es sich schlichtweg nicht leisten, dass das öffentliche und soziale Leben immer wieder eingeschränkt und in Teilbereichen sogar komplett eingestellt werden muss.
(Beifall von den GRÜNEN)
In zwei Wochen spricht die Kanzlerin wieder mit den Länderchefs. In zwei Wochen wird auch der nordrhein-westfälische Landtag wieder tagen. Es wird Sie nicht überraschen, Herr Laschet, dass wir Grüne dann Antworten auf diese Fragen erwarten.
Wir Grüne wollen, dass das Parlament der Ort ist, an dem die zentralen Debatten über die Herausforderungen an unsere Gesellschaft geführt werden. Das Parlament ist der Ort der Gesetzgebung und der Kontrolle der Landesregierung.
Über ein halbes Jahr nach Beginn der Pandemie ist es endlich an der Zeit, die verschiedenen Regelungen auf eine solide gesetzliche Grundlage zu stellen. Ich freue mich, wenn wir vielleicht inzwischen in eine ähnliche Richtung diskutieren und weiterkommen.
Mir persönlich ist es wichtig, dass wir Transparenz und Klarheit schaffen, dass hier im Parlament eine gründliche Abwägung von Grundrechtseingriffen stattfindet und wir damit auch die Rechtssicherheit stärken.
Damit komme ich wieder zum Anfang meiner Rede zurück: Ich bin wirklich der festen Überzeugung, dass eine öffentliche und transparente Debatte das Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat und die Akzeptanz solcher einschneidenden Maßnahmen fördert und erhöht.
Wir brauchen die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger zur Bekämpfung dieser Pandemie, denn nur gemeinsam können wir dieses Virus wirksam bekämpfen. – Herzlichen Dank.
(Anhaltender Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

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