Stefan Engstfeld: „Das ist ein systematisches und systemisches Versagen unseres Rechtsstaats, das einen fassungslos macht“

Zum Abschlussbericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses „Kleve“

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Hannen, ich sage es Ihnen gleich zu Anfang: Wer ein Sondervotum als Wahlkampfgetöse abtut, hat nicht wirklich verstanden, worum es hier eigentlich geht.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Dass Sie uns vorgeworfen haben, wir würden taktisch agieren und aus Wahlkampfgründen ein Sondervotum abgeben, ist einfach eine Unverschämtheit. Das sollten Sie zurücknehmen. Das ist wirklich unverschämt.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Martina Hannen [FDP] schüttelt den Kopf.)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, am 29. September 2018 ist ein Mensch im Alter von nur 26 Jahren an den Folgen eines Brandes verstorben – ein junger Mann, der Träume hatte, der Familie hatte, der Freundinnen und Freunde hatte; ein junger Mann, der nach Deutschland geflohen war, weil er in seinem Herkunftsland von Krieg und Folter bedroht war.

Gerade in diesem Land, in das er fliehen musste und in dem er Schutz suchte, wurde er Opfer eines unfassbaren und blamablen Rechtsstaatsversagens, das in die Geschichte unseres Landes eingehen wird. Amad A. wurde von nordrhein-westfälischen Behörden aufgrund von Haftbefehlen in Haft genommen, die ihn gar nicht betrafen. So absurd das klingt, so schicksalhaft war es.

Ihm wurden die Haftbefehle gegen einen anderen zugeordnet, und niemandem fiel das auf; wochenlang, ja monatelang nicht – und das, obwohl der eigentlich Gesuchte einen anderen Namen, ein anderes Geburtsdatum, eine andere Staatsbürgerschaft und eine andere Hautfarbe hatte.

Dies wäre auf den Fahndungsfotos leicht erkennbar gewesen, wenn man sie denn geöffnet hätte. Mehr als 20 Beamtinnen und Beamte des Polizei- und Justizvollzugsdienstes wären in der Lage gewesen, die Unrechtshaft von Amad A. zu erkennen. Aber sie erkannten es nicht.

Besonders erschreckend ist der Umstand, dass es nicht den einen Fehler gab. Es gab viel zu viele – eine nicht enden wollende Fehlerkette, die sich selbst bei der Aufarbeitung nach seinem tragischen Tod fortsetzte.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das ist ein systematisches und systemisches Versagen unseres Rechtsstaats, das einen fassungslos macht.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Es gilt, für diese Fehler Verantwortung zu übernehmen. Dazu muss man sich die Fehler aber zunächst einmal eingestehen – und nicht versuchen, sie abzustreiten, wie es zum Beispiel der Justizminister Peter Biesenbach zunächst tat.

Schuld darf auch nicht abgewälzt werden – auf Hamburger Behörden, wie Minister Reul es zunächst versuchte, auf einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auf die Technik oder gar auf Amad A. selbst, weil dieser nicht vehement genug protestiert habe, weil er nicht verstand, warum man ihn einsperrt.

Im Bewertungsteil des Abschlussberichts des Vorsitzenden findet sich der Satz – ich darf zitieren –:

„In den Justizvollzugsanstalten selbst hat Amad A., der insoweit über ausreichende Deutschkenntnisse verfügte, zu keinem Zeitpunkt hinreichend deutlich gemacht, dass er zu Unrecht inhaftiert war.“

Das ist ein klarer Vorwurf, der sich einfach verbietet.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Auch der Satz – ich zitiere noch einmal aus dem Bewertungsteil des Abschlussberichts des Vorsitzenden –

„Im Falle sprachlicher Unsicherheiten hätte er sich zudem an den in allen Justizvollzugsanstalten tätigen Integrationsbeauftragten wenden können.“

zeigt, wie die Regierungsfraktionen mit dem Fall umgingen.

Richtig ist: Amad A. hat im Gefängnis in Kleve, als er mit den wirklichen Haftgründen konfrontiert wurde, deutlich gesagt, dass er nicht der gesuchte Täter sein kann. Er war nie am Tatort. Er war zum Tatzeitpunkt noch nicht einmal in Deutschland. Es wäre ein Leichtes gewesen, dies nachzuprüfen.

Lassen Sie es mich noch einmal deutlich sagen: Die Schuld an der Unrechtshaft von Amad A. liegt einzig und allein bei den Behörden in Nordrhein-Westfalen – bei niemand anderem.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Es gilt, dafür Verantwortung zu übernehmen. Im Abschlussbericht des Vorsitzenden finden wir aber nichts davon. Im Gegenteil: Man wollte die Verantwortlichen offensichtlich reinwaschen. Das hat der Vorsitzende mit diesem Bericht plump versucht.

Wir können diesen Bericht nur ablehnen, weil er der Tragik all dessen, was passiert ist, nicht ansatzweise gerecht wird. Deswegen haben wir zusammen mit der SPD-Fraktion ein Sondervotum erarbeitet, das dem Bericht beigefügt ist. So sind nun auch unbequeme Wahrheiten für die Öffentlichkeit zugänglich.

In diesem Votum finden sich auch Handlungsempfehlungen und Verbesserungsvorschläge, die dabei helfen können, dass so etwas nach Möglichkeit nie wieder passieren kann. Denn offensichtlich haben die bisherigen Änderungen, die der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, der Redner der CDU-Fraktion und die Rednerin der FDP-Fraktion hier dargestellt haben, das nicht getan. Vielleicht berichtet die Landesregierung ja noch einmal öffentlich über eine weitere Unschuldshaft in NRW – nach all diesen Verbesserungen.

Können wir ausschließen, dass unschuldig Inhaftierte in unseren Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen sitzen? Nein, das können wir derzeit nicht. Das ist die nüchterne Bilanz.

Wer wirklich Verantwortung übernimmt, benennt Fehler, auch wenn es wehtut. Deswegen appelliere ich an die Landesregierung: Führen Sie wahre Veränderungen herbei anstatt solcher, die sich gut verkaufen lassen.

Was in unserem Sondervotum nicht zum Ausdruck kommen konnte, sind die zwiespältigen Eindrücke, die ich aus vielen Zeugenbefragungen mitnehmen konnte.

Auf der einen Seite gab es eine große Betroffenheit, die mich tief berührt hat. Wir hatten Zeugen und Zeuginnen, die an verschiedenen Stellen mit den Geschehnissen um Amad A. zu tun hatten, die um Worte ringen mussten und sich nicht abfinden wollten, mit sich selbst und den tragischen Umständen haderten und sich auf diese Weise ihrer Verantwortung stellten.

Diesen Zeugen möchte ich meine Anerkennung aussprechen. Sie haben uns bei der Aufarbeitung sehr geholfen.

Auf der anderen Seite haben sich Zeugen auf das fehlerhafte System berufen. Ich muss offen sagen: Wir konnten nicht alle Einzelheiten lückenlos aufklären. Die Ermittlungen gegen Tatverdächtige musste die Staatsanwaltschaft einstellen. Damit können Schuldige im strafrechtlichen Sinne nicht benannt werden.

Darum komme ich abschließend noch einmal auf den Anfang meiner Rede zurück, nämlich auf das Rechtsstaatsversagen und den Umgang der politisch Verantwortlichen damit. Dabei geht es mir an dieser Stelle nicht um die Übernahme persönlicher Verantwortung, sondern um die Übernahme der Verantwortung stellvertretend für alle, die sich für dieses blamable Rechtsstaatsversagen vor dem Opfer und seiner Familie schämen. Das vermisse nicht nur ich bis jetzt.

Lieber Herr Minister Reul, lieber Herr Minister Biesenbach in Abwesenheit: Nehmen Sie den Freibrief der Ausschussmehrheit von CDU, FDP und AfD ruhig mit schlechtem Gewissen entgegen. Aber ergreifen Sie eine Chance, und zeigen Sie sich verantwortlich – als Repräsentanten des Rechtsstaats, als Minister unseres Landes, als Vertreter von uns allen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)