Sigrid Beer: „Wir sollten uns gemeinsam dafür einsetzen, dass der Ganztag in Nordrhein-Westfalen erhalten bleibt“

Gesetzentwurf der Landesregierung zu G8/G9 - erste Lesung

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Sigrid Beer (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Was erwarten die Schulen, die Schülerinnen und Schüler und die Eltern von dieser heutigen Debatte? – Sicherlich keine rückwärtsgewandte Debatte, sondern eine Debatte, die nach vorne gerichtet ist. Auf einige Dinge muss aber noch mal Bezug genommen werden.
Liebe Frau Vogt, Geschichtsklitterung hilft hier auch nicht weiter. Bei Regierungsantritt 2005 war Schwarz-Gelb nicht gezwungen, die Sekundarstufe I zu verändern.
Die Schulzeitverkürzung haben allein Sie zu verantworten.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Ich bin froh, dass Sie in Ihrer Rede gesagt haben, das sei überstürzt gewesen, es hätte organisatorisches Chaos an den Schulen ausgelöst und das Ganze sei auch nicht vorbereitet worden. Wenn Sie sich von Ihren Kolleginnen und Kollegen hätten umfassend informieren lassen, hätten Sie gewusst, dass Rot-Grün die Schulzeitverkürzungen für die Oberstufe angelegt hatte. Natürlich wäre dann Zeit gewesen, vorweg die nötigen Schritte einzuleiten.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Herr Lindner hat noch vor Kurzem in einer Debatte hier im Landtag davon gesprochen, Entscheidungen der Akteure vor Ort und die Individualisierung von Lernwegen seien totale Beliebigkeit. Mich wundert da schon sehr, wie Sie, Herr Höne, dies heute kommentieren.
Vizepräsidentin Carina Gödecke: Frau Kollegin Beer …
Sigrid Beer (GRÜNE): Frau Müller-Rech, Sie sprechen davon, die Beteiligten vor Ort ernst zu nehmen. Ich darf Sie erinnern an die Stellungnahmen von Landkreistag, Städte- und Gemeindebund, Rheinischer sowie Westfälisch-Lippischer Direktorenvereinigung, GEW, VBE, DGB, Landeselternkonferenz, Landeselternschaft der Gymnasien und LandesschülerInnenvertretung, …
(Franziska Müller-Rech [FDP]: Und Schulen!)
Vizepräsidentin Carina Gödecke: Frau Kollegin Beer …
Sigrid Beer (GRÜNE): … die deutlich gesagt haben: Wir möchten eine Leitentscheidung, die wirklich eine Leitentscheidung ist, nämlich, dass alle Schulen nur G9 anbieten.
Vizepräsidentin Carina Gödecke: Frau Kollegin Beer …
Sigrid Beer (GRÜNE): Frau Präsidentin?
Vizepräsidentin Carina Gödecke: Entschuldigung, ich versuche, Sie zu unterbrechen, weil es zwei Wünsche nach einer Zwischenfrage gibt, und zwar bei Herrn Kollegen Rock und bei Frau Kollegin Vogt.
Sigrid Beer (GRÜNE): Das machen wir gerne im Anschluss. Ich möchte erst mal vortragen, und dann können wir das noch mit reinnehmen.
Die Meinung der Beteiligten muss wirklich respektiert und ernst genommen werden. Dieses Votum gibt es. Ich bitte daher um eine Leitentscheidung, die auch wirklich eine Leitentscheidung ist.
Es war demaskierend und entlarvend, dass die Ministerin in ihrer Pressekonferenz gesagt hat: Ja, diese Voten gibt es, aber der Koalitionsvertrag sagt etwas anderes. Also machen wir, was im Koalitionsvertrag steht.
(Yvonne Gebauer, Ministerin für Schule und Bildung: Das habe ich überhaupt nicht gesagt! Das haben Sie aus dem Zusammenhang gerissen!)
Das hat nichts mit einer Sachentscheidung zu tun. Sie haben nicht die Kraft gehabt, sich von dem Koalitionsvertrag zu lösen und sich in das hineinzuversetzen, was Ihnen die Verbände mitgeteilt haben und was der Wunsch der Beteiligten vor Ort ist.
(Henning Höne [FDP]: Sehr frei zitiert, Frau Beer!)
Das muss sehr deutlich gesagt werden.
Welche Lehren sollten wir aus dem Diskurs über den Prozess ziehen, der in der Tat auch in Nordrhein-Westfalen viel Kraft gekostet hat? Der Diskurs ist heute bereits aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet worden. Da wird viel Energie in die Strukturdiskussionen am Gymnasium gesteckt; denn viele Widersprüche sind noch nicht aufgelöst. Das ist nicht gut. Wir sollten Energie in die Entwicklung guter Schule stecken, in die Entwicklung individueller Lernzeiten für Schülerinnen und Schüler und in die Qualität von Schule. Da muss die wertvolle Energie von Kolleginnen und Kollegen und von allen Beteiligten einfließen.
Ich habe Bedenken dahin gehend, dass diese Leitentscheidung nur eine eingeschränkte Leitentscheidung ist. Die Entscheidung für das Weiterbestehen von G8 ist nur die eine Seite. Auf der anderen Seite gibt es aber noch eine Switch-Option, nach der die Schulträger sich erneut entscheiden können und das ganze Rad erneut in Gang gesetzt wird. Damit kommt keine Ruhe in die Schule. Vielmehr verlagern Sie die Unruhe wieder vor Ort in die Elternschaft und an die Schulen. Eine Leitentscheidung muss eine Leitentscheidung sein, und die bereits vorhandene Individualisierung der Lernwege muss garantiert werden.
Wir sollten bitte nicht das zurückdrehen, was Schulen schon an individuellen Lernzeiten innovativ entwickelt haben. Ich bekomme derzeit Rückmeldungen, dass einige – auch in den Kollegien – glauben, es gehe jetzt wieder zurück zum alten Halbtagsgymnasium, und dass sich der Prozess wieder rückabwickeln ließe. Wir sollten uns aber gemeinsam dafür einsetzen, dass der Ganztag in Nordrhein-Westfalen erhalten bleibt, und wir sollten ihn qualitativ zu einem Angebot erweiterter Lernzeiten für Schülerinnen und Schüler und umfassender Bildung weiterentwickeln.
(Bodo Löttgen [CDU]: Nein! – Franziska Müller-Rech [FDP]: Nein!)
Das ist das Gebot der Stunde: Mehr Zeit für Bildung!
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Weiterhin müssen wir miteinander über Frage diskutieren, welche Bildung wir für das 21. Jahrhundert brauchen und dafür, dass junge Menschen befähigt werden, diese Gesellschaft und ihre Zukunft mitzugestalten. Über diese Frage benötigen wir auch einen schulfachlichen Diskurs. Deswegen bin ich sehr gespannt, welche Antworten wir dazu in der Anhörung bekommen werden.
Im Hinblick auf eine andere Frage reicht es leider nicht aus, nur zu sagen: Ja, wir haben ein Gutachten in Auftrag gegeben. – Das ist gut für den Belastungsausgleich, Frau Müller-Rech. Dennoch müssen die Ergebnisse des Gutachtens bis zur Anhörung vorliegen – das sage ich auch der Ministerin.
(Zuruf von Ministerin Yvonne Gebauer)
Wie sollen wir uns denn über Konnexität unterhalten und sie bewerten, wenn uns das nicht vorliegt? Wir brauchen das parlamentarische Verfahren, ansonsten werden wir die Anhörung über das Schulgesetz nicht entsprechend durchführen können. Das muss man ganz deutlich sagen.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Sie haben schon mit Ihren Fragebögen für Schulträger und Schulen für ein bisschen Verstimmung gesorgt. Das musste mühsam zusammengeführt werden. Sicher kann ich nachvollziehen, wie schwierig das Geschäft für Gutachterinnen und Gutachter ist; denn die Rückmeldungen aus den Kommunen kommen nicht immer so, wie man sich das gewünscht hat. Auch im Zusammenhang mit dem Inklusionsleistungsgesetz stellt sich immer wieder die Frage, ob die Daten wirklich ausreichend und belastbar sind. Wir brauchen das aber; denn die Lage in den Kommunen ist sehr unterschiedlich.
Frau Scharrenbach schlägt vor, einfach von Bayern auszugehen. Nordrhein-Westfalen ist aber noch eine ganz andere Dimension. Da gehen wir in der Tat in Richtung 1 Milliarde €. Dass dann andere Schulen und Schulformen fragen, zu wessen Lasten das eigentlich geht, ist sehr verständlich.
Frau Ministerin, ich frage Sie, wie die im Endausbau anfallenden 2.200 zusätzlichen Lehrer-stellen eigentlich gestemmt werden sollen. Was bleibt dann angesichts der Lage des Lehrermarkts für die anderen – die Gesamtschulen, die Grundschulen, die Realschulen und die Sekundarschulen – überhaupt noch übrig? Wer bekommt demnächst die Lehrerstellen?
Sie haben gesagt: Bei der Bildungspauschale könnt ihr vor Ort mitfinanzieren. – Was heißt das denn? Es kann doch nicht sein, dass aus der Bildungspauschale und schon gar nicht aus dem Programm „Gute Schule 2020“ Zufinanzierungen entnommen werden sollen, die zulasten anderer Schulen und Schulformen gehen. Nein, da muss sauber getrennt werden.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
All diese Fragen sind Sie schuldig geblieben. Wir wissen auch noch nicht, was mit dem Ausbildungsjahrgang 2023/24 geschieht und wie die Sache mit den Hochschulen gehandhabt wird. Auch da sind noch Fragen offen.
Die Fragen von Frau Vogt und Herrn Rock können jetzt gerne gestellt werden.
Vizepräsidentin Carina Gödecke: Das können sie tun, wenn sie das noch möchten. Offen-sichtlich ist Frau Beer jetzt mit ihrem eigentlichen Redebeitrag am Ende. Wir hängen großzügigerweise die beiden Zwischenfragen an. Frau Vogt, Herr Rock, Sie müssten sich noch einmal eindrücken. – Zuerst Herr Rock.
Frank Rock (CDU): Frau Beer, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen, wenn auch mit einer zeitlichen Verzögerung. Die Frage passt eigentlich zu Ihrem Wortbeitrag ganz am Anfang.
Die Kollegin Vogt hatte ja erklärt, wie die Gesetzeslage bzw. die Gesetzeszusammenstellung 2005 aussah. Ich habe auch vernommen, dass Sie selber erst am 8. Juni 2005 in den Landtag eingezogen sind. Ich möchte Sie fragen: Welche Regierung hat am 27. Januar 2005 das neue Schulgesetz verabschiedet? War es Rot-Grün oder Schwarz-Gelb? In diesem Gesetzentwurf stand meines Wissens die Verkürzung von G9 auf G8. Es war nach meiner Recherche eine rot-grüne Regierung, die G8 gesetzesmäßig eingeführt hat. Ist das richtig oder falsch?
Sigrid Beer (GRÜNE): Herr Rock, wenn Sie so fragen, will ich auch gerne umfänglich antworten. Sie haben, glaube ich, nicht wahrgenommen, was ich eben gesagt habe. Ja, Rot-Grün hat in großer Einmütigkeit hier im Landtag G8 eingeführt, aber anders, nämlich ohne eine Schulzeitverkürzung in der Sek. I.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Es gab die Option für Schulen, sich dann für eine zweijährige oder eine dreijährige Oberstufe zu entscheiden. Das ist der Unterschied. Schwarz-Gelb hat den Murks mit der Schulzeitverkürzung in der Sek. I gemacht.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Da beißt die Maus keinen Faden ab.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Vizepräsidentin Carina Gödecke: Jetzt Frau Kollegin Vogt. – Herr Rock, eine zweite Zwischenfrage lasse ich nicht zu. – Frau Kollegin Vogt.
Petra Vogt (CDU): Frau Beer, könnten Sie mir die Frage beantworten, was die damalige rot-grüne Landesregierung für die Einführung von G8 vorbereitet hatte?
Sigrid Beer (GRÜNE): Ich will Sie auch noch einmal darauf hinweisen, dass eben keine Schulzeitverkürzung in der Sek. I geplant war. Deswegen bestand der Vorlauf – Sie wissen, wie viele Klassen und Jahrgänge es in der Sekundarstufe I gibt – in dem Arbeitsprozess, mit dem eine flexible Lösung für die Sek. II vorbereitet werden sollte. Das braucht Jahre an Vor-lauf!
Sie dagegen haben im Laufe des ersten Regierungsjahres innerhalb von drei Monaten ein Schulgesetz beschlossen und haben den Schulen und den Kommunen die Verkürzung der Sek. I vor die Tür geworfen, völlig ohne Lehrpläne, aber mit dem Bedarf nach einer Mensa. Das sind die Dinge, an denen die Schulen sich abarbeiten mussten und mit denen sie gehadert haben. Darum herrschte 2010 dann die Haltung vor, erst einmal mit allen Änderungen am Gymnasium in Ruhe gelassen zu werden.
Wir führen jetzt eine gesellschaftliche Diskussion, an der wir alle teilnehmen. Ich finde die Leitentscheidung richtig; das will ich ausdrücklich noch einmal sagen. Diese Leitentscheidung muss dann aber auch für alle gelten.
(Beifall von den GRÜNEN und Regina Kopp-Herr [SPD]) 

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