Sigrid Beer: „Was wollen Sie den Familien hier eigentlich weiter zumuten?“

Zur Aktuellen Stunde auf Antrag der SPD-Fraktion zur "PCR-Tests"

Sigrid Beer (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Ministerin Gebauer, zu warten, bis das letzte Labor sagt: „Ich kann nicht mehr“, ist keine gute superkluge Politik. Zu warten, bis die letzte Schule gesagt hat: „Ich kann nicht mehr“, wäre eine superdumme Politik. Es ist auch grundsätzlich keine gute Idee, dass sich Kinder mit einem Virus infizieren, dessen Langzeitauswirkungen und die damit verbundenen Risiken nicht bekannt und noch gar nicht erforscht sind.

(Lachen von Helmut Seifen [AfD])

Zum Glück haben Kinder und Jugendliche überwiegend mildere Verläufe. Bei hohen Inzidenzen und hohen Zahlen sind aber schon rein mathematisch mehr Kinder dabei, deren Verlauf nicht mild ist. Expertinnen weisen eindringlich auf mögliche Langzeitfolgen hin, wie beispielsweise jüngst die interdisziplinäre Wissenschaftsgruppe um Julian Schmitz von der Uni Leipzig.

Deshalb muss es unser Ziel sein und bleiben, auch bei Kindern und Jugendlichen die Infektionsrate so gering wie möglich zu halten.

Die Erklärungen, Frau Ministerin, die Sie nach dem Pooldesaster abgegeben haben, haben Eltern und Schulen nicht beruhigen können. Wenn nach einem positiven Pooltest alle in der Lerngruppe mit einem Schnelltest negativ getestet werden, dann bedeutet das, dass die Infektion nicht entdeckt ist. Aber alle sollen dann à la Schule as usual im Unterricht sitzen.

(Zuruf von Bodo Löttgen [CDU])

Das Unwohlsein bei Eltern und Kindern …

(Bodo Löttgen [CDU]: Sie widersprechen Herrn Lauterbach öffentlich!)

– Herr Löttgen, halten Sie sich doch an das, was Frau Schlottmann gerade gesagt. Hören Sie mal zu!

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Das Unwohlsein von Eltern und Kindern ist doch mit Händen zu greifen. Auch die Lehrkräfte sitzen nur noch mit ungutem Gefühl in solchen Situationen. Die treuherzige Aufforderung der Ministerin, Eltern könnte ja, wenn das Pooltestergebnis positiv ausfällt, dann bitte mit einem Bürgertest direkt nachtesten, ist doch völlig realitätsfern.

Ihnen scheinen einmal mehr die Abläufe nicht klar zu sein. Wenn spätabends die Mail aus dem Labor kommt, dann sollen die Eltern, obwohl die Kinder eigentlich – hoffentlich – schon im Bett sind,

(Zuruf von Marcel Hafke [FDP])

mal schnell noch den Bürgertest machen. Wo denn bitte? Oder sie sollen sich morgens vor der Schule in einer Reihe anstellen, damit das vorweg gemacht worden ist. Was wollen Sie den Familien hier eigentlich weiter zumuten?

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Kopfschütteln ist noch das Mildeste, was Ihnen begegnet.

(Zuruf: Was wollen Sie ihnen denn zumuten?)

Ein eindringlicher Protest sind die weißen Tücher, die Grundschulen aus den Fenstern hängen.

(Marcel Hafke [FDP]: Was ist denn die Idee der Grünen? Schulen zumachen, oder was?)

Sie kapitulieren vor dieser Schulpolitik, sie können nicht mehr. Nehmen Sie dazu doch mal Stellung. Kein Wort dazu!

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Josefine Paul [GRÜNE])

Wer Kinder in den Mittelpunkt stellen und Bildungschancen sichern will, der darf sich nicht so doppelzüngig verhalten wie die FDP,

(Marcel Hafke [FDP]: Keine Ideen!)

hier und im Bund,

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

wie Sie das aktuell tun.

(Dietmar Brockes [FDP]: Das sagt die Richtige!)

Während das Virus Schulen und Kitas und den Alltag Tausender Familien auf den Kopf stellt, fordert die FDP-Fraktion hier Lockerungen. So sieht die Realität aus.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Erwachsene sollen shoppen und zum Fußball gehen können, und Kinder und Jugendliche werden in ihrer Lebenswelt eingeschränkt.

(Zuruf von Stephan Haupt [FDP])

Frau Gebauer, zeigen Sie nicht auf Karl Lauterbach, klären Sie das mal innerhalb der FDP.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Zurufe von Marcel Hafke [FDP] und Josefine Paul [GRÜNE] – Glocke)

So sieht es heute innerhalb Nordrhein-Westfalens aus: Die Inzidenzen liegen für 5- bis 9‑Jährige bei 2.670 und für 10- bis 14‑Jährige schon bei fast 2.800. In einzelnen Kommunen wie Solingen sind es fast 5.500 für die 5- bis 9‑Jährigen.

(Zuruf: Das sind ja auch diejenigen, die getestet werden!)

Es gibt kein Vertrauen mehr in Testungen, keine systematische Ausstattung mit Luftfiltern.

(Dietmar Brockes [FDP]: Sie sind schon ohne Corona an der Schulpolitik gescheitert!)

Zur Verfügung stehende umfangreiche Unterstützungsmittel sind nicht zur Verbesserung der Rahmenbedingungen in den Schulen eingesetzt worden, sondern müssen aufwendig und bürokratisch in Sonderprogrammen organisiert werden.

(Zuruf von Marcel Hafke [FDP])

Damit sind die Schulen in dieser pandemischen Lage überfordert.

(Beifall von den GRÜNEN)

Bis heute hat das Land die S3-Leitlinie nicht konsequent umgesetzt. Denn die empfiehlt evidenzbasiert ganz klare Maßnahmenpakete zur Minderung des Infektionsrisikos.

Wer Präsenzunterricht will – und das wollen wir –,

(Dietmar Brockes [FDP]: Nein, das wollen Sie nicht! Sie wollen die Kinder nach Hause schicken!)

der muss auch alles dafür tun, dass die Schulen offen bleiben können und das Infektionsgeschehen nicht faktisch für geschlossene Klassen sorgt. Das ist doch längst der Fall.

Das Bilden kleiner stabiler Lerngruppen ist eine zentrale Maßnahme. Alle Programme, alles Personal aus den Coronaprogrammen kann dazu eingesetzt werden.

Die Schulen brauchen vor Ort mehr Flexibilität im Umgang mit …

(Dietmar Brockes [FDP]: Sie wollten doch in Ihrer Regierungszeit die Stellen streichen!)

– Ach, Sie sind ja ein Schulexperte. Das habe ich noch nie vernommen, auch heute früh nicht.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Die Schulen brauchen vor Ort mehr Flexibilität im Umgang mit der Pandemie,

(Dietmar Brockes [FDP]: So eine schlechte Rede!)

und vor Ort muss eigenverantwortlich entschieden werden können. Es darf nie wieder Verbote à la Solingen geben, Frau Ministerin.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Herr Brockes ist Experte für alles!)

Lassen Sie die Schulen endlich mit vernünftigen Rahmenbedingungen eigenverantwortlich entscheiden.

(Dietmar Brockes [FDP]: Das kommt von der Richtigen!)

Ob Wechselunterricht, ob Distanzunterricht, das Öffnen und Reduzieren der Stundentafeln – all das darf kein Tabu sein. Jugendhilfenetzwerke, Schulsozialarbeit müssen aktiviert werden, um Kinder und Jugendliche zu begleiten, die in Quarantäne sind.

(Marcel Hafke [FDP]: Wieder Schulschließungen!)

Und es sollte endlich dafür Sorge getragen werden, die Mentoring-Programme massiv auszuweiten.

Viele Kinder und Jugendliche sind psychosozialen Belastungen in der Pandemie ausgesetzt. Die resultieren aber nicht nur aus dem Verlust der sozialen Kontakte und unzureichenden Lernbedingungen im häuslichen Umfeld während des Distanzunterrichts, sie speisen sich auch aus der Unsicherheit in den Familien und den gesundheitlichen Risiken, denen sie sich und ihre Kinder ausgesetzt sehen.

Willy Brandt hat den Satz geprägt: „Die Schule der Nation ist die Schule.“ Die Schulpflicht und die Präsenzpflicht und damit das Miteinander von Menschen aus allen sozialen Schichten und Milieus sind eine gesellschaftliche Errungenschaft. Aber in dieser noch nie dagewesenen Lage darf das nicht gegen den Gesundheitsschutz gestellt werden. Es kann nicht heißen „Bildung oder Gesundheit“, es muss immer heißen „Bildung und Gesundheit“.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Frau Ministerin, angesichts der Lage und der faktisch stattfindenden Durchseuchung müssen wir über die Präsenzpflicht mit allen Beteiligten reden.

(Zuruf von der FDP: Ah!)

Omikron ist schneller als die Reaktionszeit der Landesregierung.

(Henning Höne [FDP]: Jetzt kommen wir zum Kern!)

Omikron bestimmt schon längst die Lage.

Es kann nicht sein – Herr Löttgen, geben Sie mir darauf eine Antwort –, dass Kinder von Testverweigerern entschuldigt fehlen dürfen, aber Kinder aus Schattenfamilien mit realen gesundheitlichen Risiken im bürokratischen Verfahren gedrängt werden, um dann zu erreichen, dass sie nicht am Präsenzunterricht teilnehmen müssen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Darüber müssen wir mit allen Beteiligten reden, und dafür müssen wir Lösungen finden. Denn die Schulen handhaben das völlig unterschiedlich.

Ich sage noch mal: Zu warten, bis die letzte Schule gesagt hat, sie könne nicht mehr, das wäre eine superdumme Politik.

(Dietmar Brockes [FDP]: Nein, Ihre Politik!)

Frau Ministerin – ich komme zum Ende –, weil es notwendig ist, dass die Schulen, Eltern und Schülerinnen wieder Vertrauen fassen, biete ich an: Es braucht einen politischen Schulterschluss in dieser krisenhaften Lage, wie es weitergeht.

(Dietmar Brockes [FDP]: Das kommt von Ihnen! Was für ein vergifteter Pfeil!)

Wir sind bereit, die Abwägung und die notwendigen Maßnahmen sehr kurzfristig mit der Landesregierung und den Verbänden zu diskutieren und die Umsetzung voranzubringen. Nehmen Sie dieses Angebot endlich an.

(Dietmar Brockes [FDP]: Was für ein vergifteter Pfeil!)

Sie allein sind mit Ihren unzureichenden Maßnahmen längst vor die Wand gelaufen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

 

Der zweite Redebeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt von

Sigrid Beer (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Ministerin, machen Sie bitte Schluss mit Ihrer Märchenstunde. Zeigen Sie nicht nur auf Karl Lauterbach.

Ich habe den Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann laut gehört, der in der letzten Woche in der Gesundheitsministerkonferenz gesagt hat, Kinder und Schulen müssten in die Priorität aufgenommen werden. Oder habe ich das nur geträumt?

Ich habe nichts gehört. Ich habe nicht gehört, dass der Ministerpräsident, der Vorsitzende der MPK, genau das gefordert hat. Ich habe es nicht gehört. Wo war denn diese Landesregierung? Sie sind in der Mitverantwortung.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Die Begrenzung der Kapazitäten war doch abzusehen. Dass Sie es erst in bis Anfang der Woche die Krise laufen lassen und dann die Schulen und die Eltern überraschen, die dastehen und gesagt bekommen, jetzt werde der Pooltest nicht mehr durch einen weiteren PCR-Test kontrolliert, das ist ein Versagen Ihres Managements in diesem Land – leider nicht zum ersten Mal.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Frau Müller-Rech: Ja, Sie haben die Förderschulen jetzt noch einmal besonders ausgestattet. Da gibt es den zweiten PCR-Test, weil das ja die vulnerable Gruppe ist. Jetzt frage ich Sie: Was ist denn mit den Kindern im gemeinsamen Lernen, mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Grundschulen, in den weiterführenden Schulen? Gehören die nicht zur vulnerablen Gruppe? Warum wird das anders behandelt?

Wo sind eigentlich die Bemühungen der Landesregierung, zusätzliche Möglichkeiten zu eruieren? Es ist schon das Stichwort der kombinatorischen Pooltests gefallen und die Frage der Erschließung der Kapazitäten in den humangenetischen und in den veterinärmedizinischen Laboren angesprochen worden. Wann hat das systematisch stattgefunden? Wann haben Sie uns Ihre Erkenntnisse dazu vorgelegt? Nichts ist passiert. Das ist genau dieses fehlerhafte Krisenmanagement.

Frau Ministerin, ich habe wieder nichts von Ihnen darüber gehört, was Ihre Reaktion auf die weißen Tücher ist, die Schulen jetzt reihenweise in die Fenster hängen. Das ist der manifestierte Protest gegen diese verfehlte und mangelhafte Schulpolitik und das Krisenmanagement.

([Beifall von den GRÜNEN – Marc Lürbke [FDP]: Och, Frau Kollegin, was soll denn das?)

Das muss man doch sagen. Und dann sagen Sie: Alles ist in Ordnung. – Nichts läuft mehr normal.

(Dietmar Brockes [FDP]: Das muss gerade Grün sagen!)

Und: Frau Ministerin, verdrehen Sie hier nicht die Äußerungen. Ich habe gesagt, dass die Schulen jetzt eigenverantwortlich entscheiden müssen; nach ihren Voraussetzungen, nach ihrer Lage. Ist Wechselunterricht das beste Modell? Geht es jetzt nur noch im Distanzunterricht? Ich habe gesagt, dass Sie die Schulen nicht mehr mit Tabus belegen und Initiativen wie damals das Solinger Modell einfach verbieten sollten.

Noch einmal zur Präsenzpflicht: Das kann doch nicht sein. Ist bei Ihnen in diesem abgeschotteten Orbit des MSB noch nicht angekommen, dass Eltern jetzt quasi zur Notwehr greifen und ihre Kinder krankmelden, weil sie keinen anderen Weg mehr sehen, um diesen unsicheren Bedingungen zu begegnen? Ist das noch nicht bei Ihnen angekommen? Das kann man doch nicht einfach so hinnehmen.

Und auf der anderen Seite wird Coronaleugnern – wir haben hier heute auch wieder einen gehört – ermöglicht, durch einfaches Testverweigern ihre Kinder entschuldigt aus der Schule zu lassen.

(Lachen von Helmut Seifen [AfD])

Das kann doch nicht wahr sein. Darüber müssen wir in diesem Landtag reden. Dazu muss es Regelungen geben,

(Beifall von Matthi Bolte-Richter [GRÜNE]

damit Eltern und Familien, die sich Sorgen um ihre vulnerablen Familienangehörigen machen, nicht zu solchen Reaktionen gezwungen werden. Es ist doch unsäglich, dass es in diesem Land überhaupt so weit kommen muss.

(Beifall von den GRÜNEN)

Das hat nichts damit zu tun, Schulpflicht und Präsenzpflicht abzulösen und auszusetzen.

Wann stellen Sie sich denn endlich den Realitäten? Jetzt hier mit dem Staatssekretär zu beraten, bringt uns nicht weiter. Wir brauchen eine konzeptionelle, vorausschauende Schulpolitik.

(Marc Lürbke [FDP]: Och, Frau Kollegin!)

Ich sage noch einmal: Nehmen Sie endlich die ausgestreckte Hand an.

(Zuruf von der FDP: Mein Gott!)

Denn Ihre isolierten Aktionen helfen den Schulen nicht weiter. Verunsicherung bei Eltern,

(Zuruf von Dietmar Brockes [FDP])

bei Lehrkräften und bei den Kindern ist längst Alltag in Nordrhein-Westfalen.

(Zuruf von Franziska Müller-Rech [FDP])

Diese Mauer zu durchbrechen, schaffen wir nur gemeinsam.

Aber Sie verweigern sich wiederholt allen Vorschlägen, die wir hier bereits gemacht haben, und sagen: Das geht so nicht. – Das geht so nicht? Nein, Sie haben es nie versucht, und wir konnten es auch nie gemeinsam versuchen.

Frau Ministerin, das ist eine selbst verschuldete Isolation. Leider müssen die Schulen, die Eltern und die Familien erleben, dass das ihre Lebenswelt einschränkt

(Dietmar Brockes [FDP]: Das sagt die Richtige!)

und ihren Alltag derartig auf den Kopf stellt.

(Beifall von den GRÜNEN – Dietmar Brockes [FDP]: Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Sie nicht mehr aufgestellt worden sind! Das ist selbst den Grünen zu peinlich!)