Sigrid Beer: „Individueller Bildungserfolg und Bildungsgerechtigkeit leiden nicht nur in NRW massiv“

Antrag der GRÜNEN im Landtag zum Bildungssicherungsgesetz (erste Lesung)

Sigrid Beer (GRÜNE): Vielen Dank für die Fürsorge am Redepult. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in einer Krise, die das Miteinander in unserer Gesellschaft tiefgreifend verändert. Wir müssen Schulen schließen, was vor der Krise undenkbar gewesen wäre.
Danke an die engagierten Lehrerinnen, Erzieherinnen und Pädagoginnen, die sich sofort daran gemacht haben, ihre Kinder nicht nur digital zu betreuen und zu begleiten. Ich danke auch den Eltern, die neben vielen anderen Belastungen plötzlich ganz neu zu Lernbegleiterinnen für ihre Kinder werden müssen.
Deswegen ist es jetzt in dieser Krise Zeit, sich zu besinnen, was sozial, gesellschaftlich und pädagogisch in Sachen Schulen sinnvoll und notwendig ist. Wir brauchen jetzt eine bewusste Bildungspolitik, wir brauchen keine Prüfungspolitik, Frau Ministerin; denn wer sich für eine Prüfungspolitik entscheidet, nimmt nicht nur eine massive Ungerechtigkeit in Kauf, er verschärft sie sogar noch.
Die familiären und häuslichen Voraussetzungen, um lernen zu können und sich vorzubereiten, sind höchst unterschiedlich und ungleich verteilt. Auch wenn Abschlussjahrgänge jetzt gegebenenfalls stundenweise in die Schule kommen können – und auch das läuft wieder ganz unterschiedlich ab –, gleicht es das nicht aus, schon gar nicht, wenn einzelne Schulen und Lerngruppen jetzt wieder reihenweise in den kleinen Lockdown müssen und Schülerinnen nach Hause gehen müssen.
Übrigens: Alles, was in dieser Hinsicht möglich geworden ist, ist das Verdienst der Schulen und Schulträger,
(Beifall von Jochen Ott [SPD])
die sich dann auch noch unwürdig vom Ministerpräsidenten per Talkshow beschimpfen lassen müssen.
(Beifall von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])
Aber damit wurde gleichwohl zugegeben, dass die Schulen eine nicht ausreichende Unterstützung und Vorbereitung erhalten haben und bei der Umsetzung erst einmal auf sich gestellt waren.
Individueller Bildungserfolg und – eng damit verbunden – Bildungsgerechtigkeit leiden nicht nur in NRW massiv. Aber CDU und FDP verstärken die Effekte, und das ist längst nicht mehr fahrlässig, das passiert mit Vorsatz. Sie machen den Eltern etwas vor. Wenn Sie jetzt erzählen, Ihr Ziel sei es, alle Kinder noch vor den Ferien wieder in die Schulen zu holen, sind das doch Potemkinsche Schulen, von denen Sie sprechen, denn Sie blockieren in der Realität die weiterführenden Schulen durch die Prüfungsjahrgänge.
Die Räume, die Zeit, das Personal – alles wird durch Prüfung, Vorbereitung und Durchführung überproportional gebunden. Auf Gesamtschulen mit zwei Prüfungsjahrgängen trifft das noch mehr zu als auf andere Schulformen. Gesamtschulkinder haben also noch weniger Chancen als andere, ihre Schule vor den Ferien wieder besuchen zu dürfen.
Die Zahl der nicht im Präsenzunterricht einsetzbaren Lehrkräfte ist von Schule zu Schule höchst unterschiedlich. An den einen sind es 10 %, an anderen 50 %. Es muss vielfach auffachfremden Unterricht zurückgegriffen werden. Schulen mit nicht besetzten Stellen sind gegebenenfalls mehrfach betroffen. – Und Sie erzählen, alles sei gleich in der Vorbereitung.
Es gibt Schulen, die eine gute Begleitung im Lernen auf Distanz bieten können. Vieles ist kurzfristig gelungen. Auch da sage ich: Danke für das Engagement und die enorme Kreativität. Aber auch hier gilt: Die Situation an den einzelnen Schulen ist höchst unterschiedlich und dementsprechend auch das, was bei den Schülerinnen angekommen ist.
Wir haben hier im Landtag engagiert über G8 debattiert. Im Fokus standen immer auch die psychische Belastung und die mentale Gesundheit von Schülerinnen und Schülern.
Die Frage von Bildung und Gesundheit schieben Sie jetzt auch zur Seite. Was macht das mit dem Lernen, dass das bisher so sicher Geglaubte gerade auch bei jüngeren Menschen erschüttert ist? Sie erleben die Existenznöte von Eltern, sorgen sich um Großeltern, vorerkrankte Eltern, Geschwister oder um ihre eigene Gesundheit. Sie zwingen sie in den Konflikt, sich zu entscheiden zwischen Prüfungsvorbereitung und Risiko für die Menschen, die ihnen nahestehen. Das belastet viele junge Menschen. Diese psychischen Belastungen blockieren Lernen und Wirken bis in Prüfungssituationen hinein. Die von Ihnen verordneten Prüfungen sind in der jetzigen Situation nicht fair und nicht gerecht. Das gilt übrigens besonders für Schülerinnen aus dem Kreis Heinsberg.
Wir sollten diese Prüfungen jetzt aussetzen und im Gesetzentwurf die Vorkehrungen dafür treffen.
(Frank Rock [CDU]: Wie kann man ihnen das zumuten?)
Die Anerkennung der Abschlüsse ist nicht gefährdet. Ich verweise auf die Ausführungen des Staatssekretärs am 16.04. im Schulausschuss.
Welche Prüfungen noch zu absolvieren sind, ist von der KMK übrigens auch nicht festgeschrieben. Wir Grüne sprechen uns ausdrücklich für das Absolvieren der Vorabiturklausuren aus und für freiwillige Prüfungen für Schülerinnen, damit sie sich verbessern können, wenn sie das auch wollen. Das sogenannte Durchschnittsabitur ist möglich, ebenso der Verzicht auf die Prüfungen der 10. Klasse.
Wir wollen, dass möglichst viele Kinder, und zwar auch die mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, die Schule besuchen dürfen. Sie brauchen die Beziehung zu Lehrkräften. Die wären froh, ihre Kinder wiederzusehen.
Wir haben ausführliche Überlegungen dazu im Antrag vorgelegt. Wir brauchen jetzt Pädagogik, nicht Prüfung. Das wäre auch eine Chance, die Bildungspolitik wieder anders aufzustellen; nicht gegen den Widerstand der Betroffenen, sondern in dem gemeinsamen Entwickeln. – Danke schön.
(Beifall von den GRÜNEN)

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