Sigrid Beer: „Die Gymnasien in diesem Land haben sich längst auf einen Reformweg begeben und befinden sich landesweit in einem Öffnungsprozess.“

Aktuelle Stunde auf Antrag der FDP zum Schulsystem

Sigrid Beer (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP verkennt einmal mehr die Realitäten in diesem Land. Die Gymnasien in diesem Land haben sich längst auf einen Reformweg begeben und befinden sich landesweit in einem Öffnungsprozess.
Landesweit gehen fast 42 % der Schülerinnen nach der Grundschule in ein Gymnasium; in manchen Kommunen sind es sogar 60 % und darüber. Dabei hat sich an der Feststellung, wie sich zeigt, nichts geändert, dass das Gymnasium eine erfolgreiche Schulform ist, die auch längst schon auf die veränderte Schülerschaft reagiert hat. Sie haben doch mit dem Landesprogramm „Komm mit! – Sitzenbleiben reduzieren“, das Sie aufgelegt haben, gezeigt, dass das gerade bei den Gymnasien gefruchtet hat. Wir haben 100 Gymnasien, die sich in dem Inklusionsprozess hineinbegeben haben. Das wollen Sie alles einfach nicht wahrnehmen, Frau Gebauer.
Aber wer diesen Antrag aufmerksam liest, der stellt fest, was die FDP eigentlich will. Sagen Sie es doch bitte! Reden Sie doch Tacheles in der Sache! Sagen Sie uns, dass Sie die Zugänge zum Gymnasium beschränken wollen! Das steht doch hinter diesem Ansatz. Das ist doch ganz deutlich. – Aha, Frau Gebauer nickt. Halten wir das für das Protokoll fest!
Welche Instrumente sollen es denn sein: Übergangsempfehlungen wieder verbindlich machen, oder wollen Sie die bayerische Methode mit bestimmten Notendurchschnitten? – Das wird Rot-Grün nicht mitmachen. Sie bremsen den Elternwillen mit Ihren antiquierten Bildungsvorstellungen in Nordrhein-Westfalen nicht aus.
(Beifall von den GRÜNEN)
Wenn Sie sich in der Aktuellen Stunde auf das VBE-Gutachten beziehen, sollten Sie, sofern Sie es sich angeschaut haben, eigentlich wahrgenommen haben, dass selbst in Bayern trotz der restriktiven Maßnahmen die Übergangsquoten weit gestiegen sind, ja fast so groß sind wie in Nordrhein-Westfalen, nämlich auf 40,5 % im Durchschnitt. In Nordrhein-Westfalen sind es 41,8 %. Aber die FDP versucht, den gelben Zaun um die Gymnasien zu ziehen. Das wird nicht klappen.
Aber auch in anderer Hinsicht entlarvt sich dieser Antrag doch selbst. Der Begriff der individuellen Förderung, Frau Gebauer, ist Ihnen vollkommen abhandengekommen. Dieser zentrale Begriff kommt in Ihrem Antrag nicht einmal vor. Ihre Maxime heißt also: Lernen im Gleichschritt für wenige Auserwählte! – Damit sind Sie die Einzigen, in diesem Haus, die noch die Fiktion der Homogenität von Lerngruppen aufrechterhalten. Herzlichen Glückwunsch zu diesem Alleinstellungsmerkmal! Das ist aus dem letzten Jahrhundert.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Widerspruch von Yvonne Gebauer [FDP])
Ich hatte persönlich die große Freude, Hildegard Hamm-Brücher, die Grande Dame der Liberalen, als es die Liberalen im Wortsinn noch gab, kennenlernen zu dürfen.
(Zurufe von der FDP: Oh, oh! – Weitere Zurufe von der FDP)
Sie hat mich tief beeindruckt, gerade auch in ihrer Klarheit in der bildungspolitischen Haltung und Überzeugung.
(Weitere Zurufe von der FDP)
– Ja, das tut Ihnen weh. Wissen Sie, was Hildegard Hamm-Brücher gesagt hat?
Sie hat gesagt: Eine demokratische Leistungsgesellschaft kann gewiss nicht dadurch kaputtgehen, dass mehr Menschen bessere Bildungsmöglichkeiten und damit bessere Lebenschancen erhalten.
Schauen Sie sich dagegen den Antrag zu dieser Aktuellen Stunde an!
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Hildegard Hamm-Brücher ist auch Mitbegründerin der Theodor-Heuss-Stiftung, die 2003 ihren Preis an Andreas Schleicher, den PISA-Koordinator, verliehen hat, weil er dazu beigetragen hat, eine breite und anhaltende öffentliche Debatte über Bildung und Erziehung und notwendige Veränderungen anzustoßen.
In der Begründung heißt es – ich zitiere –:
Jahrzehntelange Verkrustungen und Defizite im deutschen Bildungssystem können nur durch langfristige Strategien korrigiert werden, und dies bedeutet insbesondere für Deutschland, dass tiefgreifende Reformen notwendig sind, um die durch PISA angemahnte ausgewogene Verteilung von Bildungschancen zu erreichen.
Dass Sie nichts mehr mit der Theodor-Heuss-Stiftung gemein haben, ist mir auch klar. Das ist eine ganz andere Linie. Das sind nicht mehr die Liberalen von 2003.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Was Sie mit Ihrem Antrag hier und heute präsentieren, ist das Gegenteil von Liberalität. Das ist enge Geisteshaltung durch Abschotten und das Hochziehen von Mauern in der Gesellschaft. Diese FDP in NRW ist ganz die rückwärtsgewandte FDP – hoffnungslos aus der Zeit gefallen. Es ist weiter der Klientel-Liberalismus der Marke „Lindner“, der hier zelebriert wird.
(Zurufe von der FDP: Wie bitte!?)
Hildegard Hamm-Brücher hat es schon 1993 in der „ZEIT“ wunderbar formuliert:
Das Verlustgefühl begleitet mich durch mein Alter. Ich habe leider Gottes die Hoffnung aufgeben müssen, die FDP könne als Markenzeichen für eine wirklich liberale Konzeption in der Bildungspolitik dienen.
(Zurufe von der FDP)
Und wenn es eines Belegs für dieses Zitat bedurft hätte, dann muss man diesen Antrag zu dieser Aktuellen Stunde heute danebenhalten.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Wenn Sie sich aber anschauen wollen, welche Wege heute die Gymnasien gehen, dann nehmen Sie das VBE-Gutachten zur Hand, dann schauen Sie sich die aktuelle Zeitschrift der GEW an, die „NDS“. Darin wird nämlich das Clara-Schumann-Gymnasium in Dülken porträtiert, und Sie sehen, was individuelle Förderung bedeuten kann. Schauen Sie sich dann bitte auch das Gymnasium zum Beispiel in Alsdorf an, das sich der Dalton-Pädagogik verschrieben hat und dafür den Deutschen Schulpreis bekommen hat. Dann wissen Sie, was individuelle Förderung bedeutet. Die nehmen alle Kinder auf ihrem Weg mit. Diesen Gymnasien zu unterstellen, sie arbeiteten leistungsnivellierend, ist eine Unverschämtheit und Frechheit den Menschen gegenüber, die dort in der Schule arbeiten.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Das Motto des Dalton-Gymnasiums in Alsdorf heißt „Selbstständigkeit, Freiheit, Verantwortung und Kooperation“. Das ist das Dalton-Prinzip, das das Gymnasium Alsdorf zu einem Prinzip des Lernens gemacht hat. Diese Beispiele von Schulentwicklung sollten Sie sich anschauen. Die Gymnasien in Nordrhein-Westfalen sind da bereits auf dem Weg.
Was macht die FDP? – Sie redet von schleichender Entwertung, von Nivellierung der Schulleistung in NRW.
Dieser Antrag zur Aktuellen Stunde – Frau Gebauer, das tut mir leid – ist wieder mal FDP-Vodoo, wie wir es hier häufig erleben.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Sie haben sich nicht nur 2010 aus der Bildungskonferenz verabschiedet, sondern Sie haben sich insgesamt aus der Schulentwicklung in Nordrhein-Westfalen verabschiedet.
Hildegard Hamm-Brücher hat im Jahr 2010 zu Recht gesagt:
„Grundsätzlich gilt: In der Bildung muss es Chancengerechtigkeit geben. Deswegen finde ich jeden Schritt weg vom ständisch gegliederten Bildungswesen hin zu einem offenen System richtig.“
Ich finde, dem ist nichts hinzuzufügen.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Deswegen möchte ich mich heute Morgen auch gar nicht weiter mit diesem Antrag zur Aktuellen Stunde auseinandersetzen, sondern viel lieber morgen über den interessanteren Ansatz der CDU diskutieren. Dabei werden wir zwar auch nicht einer Meinung sein, aber darüber lohnt es sich zu reden – über diesen Antrag zur Aktuellen Stunde hingegen leider nicht.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

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