Sigrid Beer: „Die Bildungsungerechtigkeiten haben zugenommen“

Zum Antrag der GRÜNEN im Landtag "Bildung für das 21. Jahrhundert"

Sigrid Beer (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Gleich zu Beginn möchte ich mich bedanken, und zwar bei einer Runde von NRW-Expert*innen aus Lehramtsausbildung, Inklusion und Schulleitung, die mit ihren Schulgemeinden Schulpreise errungen haben. Sie haben an diesem Antrag mitgewirkt, und zwar durch inhaltliche Diskurse und durch Diskussionsrunden.

Schon in der Debatte, aber auch in den Stellungnahmen ist sehr deutlich geworden: Das Schulsystem in NRW befindet sich im dritten Jahr der Pandemie in einem Erschöpfungszustand; wegen mangelhafter Unterstützung des Krisenmanagements und des Kommunikationsdebakels der Schulministerin. Das hat einen tiefgreifenden Vertrauensverlust ausgelöst. Der Frust in den Schulen ist massiv.

(Jochen Ott [SPD]: Ja!)

Die Bildungsungerechtigkeiten haben zugenommen. Die soziale Dimension von Corona schlägt in prekären Lebenslagen besonders durch. Das Infektionsrisiko ist dort höher.

Ausgerechnet in Schulen in herausfordernden Lagen und mit sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen steht es um die Ressourcen besonders knapp. Die Schulen müssen in Konkurrenz untereinander ringen, auch beim Sozialindex, der nur eine Überschrift ist, weil die Ressourcenausstattung nicht ausreicht.

(Beifall von den GRÜNEN und Jochen Ott [SPD])

Frau Kollegin Müller-Rech, der Bund hat eben nicht das Modell der Talentschulen übernommen, um zusätzliche Unterstützung für Schulen in herausfordernden Lagen bereitzustellen. Denn es wird verlässlich in die Schulen eingebunden, nicht in Konkurrenzsituationen untereinander. Das ist verlässliches Personal und kein Add-on. Das ist eine andere Konstruktion.

(Zuruf von Franziska Müller-Rech [FDP])

Das ist wichtig, und das ist eine wichtige Nachricht.

Die versprochenen Qualitätsstandards der Inklusion sind leider nicht angekommen. Gehen Sie mal in die Schulen.

(Beifall von Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD] – Zuruf von Henning Höne [FDP])

Die sogenannte Zauberformel „25 – 3 – 0,5“ ist ein leeres Versprechen geblieben.

(Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: So ist es! – Zuruf von Franziska Müller-Rech [FDP])

Auch hier ist der Frust groß.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Und ausgerechnet in den Pandemiejahren 2021 und 2020 hat die Schulministerin fast eine halbe Milliarde Euro an den Finanzminister zurückfließen lassen, anstatt das Geld als Budget für unbesetzte Stellen zur Verfügung zu stellen. Stellen geben keinen Unterricht. So viele unbesetzte Stellen wie jetzt gab es noch nie. Es sind fast 8.000.

Das System ist auf Kante genäht, Frau Ministerin, und die digitale Infrastruktur ist immer noch Stückwerk. Anträge sind keine Bewilligungen und längst noch nicht umgesetzt. Glasfaser am Bürgersteig bedeutet nicht Glasfaser in der Schule.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: So ist es!)

Es gibt immer noch keine Standards für digitale Ausstattung. Tablets für Lehrkräfte sind nur bedingt diensttauglich, und Endgeräte für Schüler*innen sind immer noch nicht in der Lernmittelfreiheit erfasst.

Auch die Kinder aus der Ukraine müssen dringend mit digitalen Endgeräten ausgestattet werden und Zugang zu Lernräumen mit digitaler Infrastruktur haben. Auch da hätte ich mir gewünscht, dass es sofort ein Programm dazu gibt.

Bildung und Gesundheit werden immer noch nicht zusammengedacht. Ministerin Gebauer fordert noch nicht einmal zum Tragen von Masken auf, sondern verweist auf Freiwilligkeit.

(Zuruf von Martina Hannen [FDP])

Ob Schulleitungen nicht doch in Verantwortung für den Arbeitsschutz je nach Lage das Tragen von Masken sogar verfügen müssen, muss rechtlich genau geprüft werden.

Noch ein kurzes Wort zu LOGINEO. Es ist nämlich gar nicht sicher, ob das Hauptmodul von LOGINEO dem Bedarf entsprechend skalierbar und cloudfähig ist. Das muss geprüft werden. Wenn das nicht der Fall ist, ist dies ein riesengroßes Problem für die Schulen und das gesamte System.

Alle Krisen müssen zusammengedacht werden, und die Schulen müssen endlich substanziell unterstützt werden. Die Coronamittel als Add-on mit bürokratischem Aufwand erreichen die Kinder zum größten Teil nicht. Sie müssen entfristet in den Schulen verankert und die Unterrichts- und Lernbedingungen im Schulalltag konkret verbessert werden.

(Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: So ist es!)

Die nicht verausgabten Mittel für Stellen müssen zur Verbesserung von Qualität und Rahmenbedingungen eingesetzt werden. Eine verbindliche Kooperation mit den Hochschulen – seit zwei Jahren reden wir darüber – muss endlich flächendeckend umgesetzt werden. Schulpraktische Anteile werden zu einem Unterstützungssystem für die Kinder und Jugendlichen, das wissenschaftlich begleitet werden sollte.

Die Landesregierung muss die Kommunen unterstützen, zusätzliche Lernräume und Lernorte bereitzustellen. Ja, und die Schulen müssen auf den Herbst vorbereitet und endlich vernünftig mit Luftfiltern ausgestattet werden.

Das alles macht deutlich: Bildung muss uns lieb und teuer sein; denn es geht um die Zukunft unserer Kinder, aber auch um die Zukunft dieser Gesellschaft.

Zum Schluss erlauben Sie auch mir bei dieser letzten Rede ein paar persönliche Worte. Ich danke allen Kolleg*innen der demokratischen Fraktionen. Ich danke Ihnen für Ihre Leidenschaft für Bildung und auch für das leidenschaftliche Streiten um mehr Bildungsgerechtigkeit.

Für mich waren übrigens die wertvollsten der letzten 17 Jahre die Jahre in der Zeit der Minderheitsregierung, weil sie das Parlament und seine Konsenskraft enorm gestärkt haben. Da hat der Parlamentarismus seine Tragkraft bewiesen.

Ich danke gerade deshalb den Kolleg*innen, mit denen ich über die Fraktionen hinaus in unterschiedlichen Rollen über vier Legislaturperioden hinweg immer wieder erlebt habe, dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit Bestand hat. Das ist auch eine der Grundlagen für den Schulkonsens gewesen, der diesem Land gutgetan hat. NRW braucht einen neuen, guten Schulkonsens. Ich danke auch den Mitarbeiter*innen im Ministerium für ihre engagierte Arbeit.

Vor allen Dingen sage ich den Kolleg*innen der demokratischen Fraktionen Danke für ihre klare Haltung gegenüber jeglicher Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, für das Zusammenstehen gegen alle Angriffe auf die parlamentarische Demokratie

(Zuruf von Thomas Röckemann [AfD])

und auch dafür, wenn es notwendig ist, Haltung zu zeigen. Wir haben das heute bei einem unsäglichen Beitrag wieder erlebt.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Das Prinzip von Wort und Widerwort hat in diesem Parlament eine besondere Bedeutung gewonnen. Es darf nicht sein, dass diejenigen, die hier die Hetzreden halten, die hassgeschwängert reden, das letzte Wort haben. Das ist das wichtigste Prinzip.

Vielen Dank an Kirstin Korte auch für das manchmal nicht einfache Managen des Schulausschusses.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Vielen Dank an Marlies für die immer klugen Beiträge. Ich habe das sehr wertgeschätzt.

Vielen Dank an den Kollegen Ott.

Vielen Dank an Franziska Müller-Rech trotz aller Auseinandersetzungen. Das muss sein, und da streite ich gerne mit dir, weil du da nicht recht hast.

(Heiterkeit)

Und auch vielen Dank an Claudia Schlottmann für das angenehme und wunderbare Zusammenarbeiten.

Ich werde das hier sicherlich vermissen, aber ich freue mich auch auf eine andere Zeit mit anderen Aufgaben. Vielen Dank an alle, die hier so im demokratischen Miteinander für die Gesellschaft, für unsere Kinder und für die Zukunft arbeiten.

(Anhaltender Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP – Christian Loose [AfD]: Glück auf!)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, liebe Sigrid Beer, für deine letzte Rede heute. 17 Jahre im Parlament! Diese 17 Jahre haben wir hier übrigens gemeinsam verbracht. Insofern habe ich die Zeit mitbekommen.

Du hast dich selbst mal liebevoll als „Bildungskugel“ bezeichnet.

(Vereinzelt Heiterkeit)

Das fand ich schön, das fand ich, was den Begriff angeht, solidarisch. Zur „Kulturkugel“ hat es bei mir aber nie gereicht.

Auf jeden Fall darf ich dir – ich darf das im Namen des Hohen Hauses sagen – sehr herzlich für deinen Einsatz danken, für die enorm viele Zeit, die du mit diesen Themen verbracht hast, für die Nähe, die du zu allen hast walten lassen, die mit diesen Fragen der Schulpolitik verbunden sind. Es endet ein Abschnitt, wenn eine so gestandene Frauensperson mit diesem Engagement dieses Haus verlässt. Insofern alles Gute für den weiteren Weg, auch vom Präsidium, und Danke für die gemeinsamen Jahre. Nochmals alles Gute!

(Anhaltender Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)