Oliver Keymis: „Mit Blick auf die Friedensaussage und das geeinte Europa von besonderer Bedeutung“

Antrag der Fraktionen von CDU und FDP zur Erinnerungskultur

Oliver Keymis (GRÜNE): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es mit einem Dokument zu tun, von dem schon seit vielen Jahrzehnten die Rede ist. Herr Deutsch, ich erinnere mich daran, dass Innenminister Maihofer, ein FDP-Innenminister, 1975 vorgeschlagen hatte, den 5. August zu einem nationalen Feiertag zu erklären, auf der Basis dieser Charta.
Ich habe mit großem Interesse noch einmal nachgelesen, dass wir in den Jahren 2010 und 2011 – interessanterweise 61 Jahre nach der Niederlegung der Charta – einen historischen Streit darüber hatten. Sechs Wissenschaftler, Historiker aus dem Arbeitskreis der Stiftung des Bundes zum Thema „Vertreibung und Erinnerung“, haben sich damals kritisch mit der Charta auseinandergesetzt, weil immer wieder der Vorwurf historisch formuliert wurde, dass bestimmte Zusammenhänge nicht genügend mit in die Einsichtnahme eingeflossen sind, die am 5. August 1950 in Stuttgart-Cannstadt von den Vertriebenen gemeinsam organisiert wurde.
Gleichwohl teilen wir, glaube ich, heute im Rückblick alle die Einschätzung, dass es unter den gegebenen Umständen in der historischen Situation, in der sich die Menschen befanden, eine sehr interessante und auch eindrucksvolle Dokumentation ist, zu sagen: Wir haben Schlimmes erfahren; aber wir wollen nach vorne gucken und damit umgehen. – Das ist in jedem Falle zu würdigen und gerade auch mit Blick auf die Friedensaussage und das geeinte Europa von besonderer Bedeutung.
Es steht in einem Zusammenhang, in dem sich fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg eine Menge Menschen in diese Richtung geäußert haben. Ich erinnere an Robert Schuman, der ein paar Monate vorher, am 9. Mai 1950, eine wegweisende Rede zur europäischen Zukunft gehalten hat und der auch in eine Richtung formuliert hat, die uns heute gerne an diese Phase erinnern lässt.
Natürlich müssen wir – ich habe das eben auch so wahrgenommen, Kollege Bialas – die rhetorischen Formeln, die da zum Teil drin sind, entsprechend betrachten.
Sie sind zwar schwierig; denn das Thema „Rache und Vergeltung“ spricht sich für uns heute noch schwerer aus, als es vielleicht damals schon der Fall war. Aber vor dem Hintergrund der Gesamtzusammenhänge, vor dem Hintergrund der 12 Millionen Vertriebenen und der 2 Millionen Opfer, also der Leute, die auf der Flucht gestorben sind, ist das natürlich ein verständliches Moment menschlicher Regung auch in diesem historischen Zusammenhang.
Gleichwohl muss man wiederum sagen, dass es ja auch in der seinerzeit bestehenden sozialen Spannungslage der Bundesrepublik zu sehen ist. Man muss also Folgendes sehen: Es waren die Deutschen, die hier im Westen nach dem Krieg vor den Trümmern standen. Dann kamen noch 12 Millionen dazu, die in irgendwelchen Baracken wohnten und gucken mussten, wie sie klarkommen. Man schaute sehr misstrauisch auf diese Menschen, die dazukamen: Was sind das für welche? Was wollen die jetzt auf einmal noch hier? Wir haben es doch selber gerade nicht leicht.
Man muss also diesen ganzen Bogen sehen, wenn man sich mit diesen Fragen befasst. Das ist der entscheidende Punkt.
Der Antrag enthält aus Sicht meiner Fraktion – wir werden uns enthalten – viel Richtiges. Daran ist nichts Falsches. Aber er unternimmt nicht den Versuch, den man sich vielleicht, wenn man das, was ich zu beschreiben versucht habe, einmal zusammenfasst, noch hätte erlauben können, doch zu sagen: Es ist ein ganz großer auch historischer Bogen, der da zu schlagen ist, bei dem man letztlich das eine vom anderen nicht wirklich trennen kann.
Ein Stück weit war natürlich ein Teil der Selbstvergewisserung von Stuttgart-Cannstatt am 5. August, dass man sich von einem bestimmten Teil in dem Moment, in dem man das niederschrieb, einmal nicht betroffen fühlen wollte. Ich verstehe das im Grunde auch, weil man es menschlich verstehen kann.
Historisch gesehen – deshalb hat das Dokument an der Stelle meiner Ansicht nach eine gewisse Tücke; sie ist nicht bewusst herbeigeführt, steckt aber da einfach drin, aus der Historie heraus begründbar – kann man es, glaube ich, schon so halten, wie es Ralph Giordano am 5. August 2011 in der „WeLT“ formuliert hat. Er hat gesagt, dass die Vertreibung vom Holocaust nicht zu trennen ist. Ich zitiere, Frau Präsidentin:
„Kein Verbrechen von Deutschen rechtfertigt Verbrechen an Deutschen. Die heutigen Staatsmänner in Mittel- und Osteuropa wären deshalb gut beraten, auch da nicht zurückzuschrecken, wo die Geschichte des eigenen Landes nach 1945 nun ihrerseits Gegenstand schmerzhafter Aufarbeitung wird. Aber: Keine Geschichte der Vertreibung ohne ihre Vorgeschichte, und keine Vorgeschichte der Vertreibung ohne ihre Geschichte – die Humanitas ist unteilbar.“
Ich bedanke mich.

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