Mehrdad Mostofizadeh: „Es reicht nicht, eine Wohnung behindertengerecht umzubauen, wenn man sie nicht verlassen kann“

Antrag der GRÜNEN im Landtag zur Zukunft der Pflege

Mehrdad Mostofizadeh

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag setzt nahtlos an der Thematik an, die wir eben beraten haben. In Nordrhein-Westfalen leben mehr als 650.000 Menschen, die pflegebedürftig sind. Der demografische Wandel schreitet immer weiter fort. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass wir jetzt eine kleine durch Zuwanderung bedingte Delle in dieser Entwicklung haben, wodurch eine gewisse Verjüngung stattgefunden hat. Ganz im Gegenteil, das wird eher noch dazu führen, dass diejenigen, die jetzt jung sind, halt 20 Jahre später die demografischen Effekte verstärken.
All das, was wir in den letzten Jahren für die Kommunalpolitik nicht nur im Ruhrgebiet, sondern in allen Ballungsräumen, aber auch in anderen Gebieten Nordrhein-Westfalens identifiziert haben, wird sich weiter fortsetzen: Es wird eine Alterung der Gesellschaft geben. Es wird eine zunehmende Pflegebedürftigkeit und zunehmend Menschen geben, die auf – auch umfassende – Unterstützung angewiesen sind.
Weil es eben in der etwas hitzigen Debatte um die Landesbauordnung mehrfach angeklungen ist, will ich an der Stelle wiederholen: Die allermeisten Menschen, die Behinderungen haben, die auf Unterstützung angewiesen sind, hatten diese Unterstützung nicht von Geburt an nötig, sondern sind aufgrund von Unfällen oder – wie es auch Frau Kollegin Altenkamp geschildert hat – Alter zu ihrer Behinderung oder ihren Einschränkungen gekommen. Darauf müssen wir reagieren, und zwar so, wie eine selbstbewusste, aufgeklärte westliche Gesellschaft zu reagieren hat: indem wir das Selbstbestimmungsrecht der Menschen stärken, die Infrastruktur so ausbauen, dass die Menschen möglichst selbst entscheiden können, wo sie leben, und indem wir dafür sorgen, dass es keine Grenzen der Inklusion gibt, sondern einen möglichst hohen Standard, von dem man sagen kann: Selbstbestimmungsrecht heißt auch, dass ich dann möglichst weiter in dem Quartier leben kann, in dem ich vorher gelebt habe. Das ist ein hohes Gut, das diese Gesellschaft aus meiner Sicht zu bewahren hat.
(Beifall von den GRÜNEN)
Dazu gehört natürlich eine Menge Planung und auch Selbstverantwortung; das will ich ganz klar sagen. Natürlich gehört dazu auch, dass sich Menschen wie ich, die um die 50 sind, darauf vorbereiten und entsprechende Entscheidungen treffen und dies nicht auf die Kinder verlagern. Aber dazu gehört auch, dass ein Land wie Nordrhein-Westfalen mit seinen Möglichkeiten dafür sorgt, dass sowohl in der Verkehrsinfrastruktur, der Stadtentwicklungsplanung als auch in der sozialen Entwicklung die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden.
Ich habe nicht den Eindruck, dass hieran mit ausreichendem Nachdruck gearbeitet wird. Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Ministerin Scharrenbach – die jetzt den Raum verlassen hat –, es reicht nicht, eine Wohnung rollstuhlgerecht oder behindertengerecht umzubauen, wenn man sie nicht verlassen, das Kino nicht aufsuchen oder im Quartier nicht einkaufen kann. Das ist dann Stückwerk und hat mit Selbstbestimmung herzlich wenig zu tun.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Deswegen müssen wir die Quartiersarbeit stärken und nicht schwächen. Deswegen müssen wir – und da hoffe ich, Sie, Herrn Minister Laumann, an meiner Seite zu haben – Behauptungen der Wohnungswirtschaft entgegentreten, dass es keinen oder nur unklaren Bedarf gäbe, was nicht nur den Ausbau von rollstuhlgerechten, behindertengerechten Wohnungen, sondern vor allem Standards im Wohnumfeld anbetrifft. Wir müssen eher dafür sorgen, dass die Kommunen und auch das Land das ihrige dafür tun, diese Bedarfe genau zu erheben und dann darauf zu reagieren und die Situation nicht schön zu reden, indem behauptet wird, dass es sie nicht gäbe. Das fordert auch unser Antrag.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich möchte auch auf die Situation der Pflegenden eingehen. 70 % derjenigen, die gepflegt werden, werden von Angehörigen oder ihnen nahestehenden Menschen gepflegt. Da ist es – da will ich auch ganz offen sein – nicht immer so, dass dem Pflegenden und dem Gepflegten gerecht wird, was da geschieht. Deswegen müssen wir das Hauptamt und das Quartier stär- ken, damit auch eine Krankenschwester, ein Pfleger oder eine Pflegerin – auch ganztägig – zur Verfügung steht und der Standard ambulant vor stationär auch umgesetzt wird. Es kann doch nicht sein, dass, weil wir es nicht schaffen, ausreichend Pflegepersonal zur Verfügung zu stellen, das beratend, ergänzend zur Seite steht, die einzige Option darin besteht, in eine stationäre Einrichtung zu gehen. Es muss die Wahlfreiheit des einzelnen Bürgers, der einzelnen Bürgerin bleiben, diese Entscheidung zu treffen. Dies darf nicht am Standard in Nordrhein-Westfalen scheitern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich sage Ihnen als jemand, der 15, 16 Jahre in der stationären und der ambulanten Alten- pflege gearbeitet hat, auch sehr klar: Das ist ein harter Beruf, und die Bedingungen sind schlechter geworden – mehr Bürokratie, mehr Arbeitsverdichtung. Das liegt auch daran, dass die Menschen viel älter werden, als es der Fall war, als ich vor über 20 Jahren in diesem Beruf zu arbeiten begann. Damit werden die Menschen natürlich auch erheblich pflegebedürftiger. Und wir haben 300.000 Menschen mit Demenz in Nordrhein-Westfalen. Das stellt ganz andere Anforderungen an den Pflegeberuf. Trotzdem – das will ich mit aller Freude sagen – ist es ein toller Beruf. Wann hat man schon so viel mit Menschen zu tun, kann von älteren Menschen lernen, unterschiedliche Aspekte kennenlernen? Diese Aspekte möchte ich auch hier einbringen. Das geht aber nur, Herr Minister, wenn wir in Deutschland die Bedingungen dafür schaffen, dass genug Geld im System ist, dass wir mehr Pflegeausbildung betreiben und nicht ein Minister Spahn erzählt, wir müssten Pflegekräfte aus dem Ausland importieren. Das ist aberwitzig und letztlich auch ein Angriff auf die Pflegefachkräfte in den anderen Ländern dieser Welt. Das können wir nicht allen Ernstes weiterverfolgen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich will an dieser Stelle auch sagen: Das hat mit der Nationalität nichts zu tun. Wir haben hier unsere Hausaufgaben zu machen.
In Nordrhein-Westfalen sind wir Vorreiter. 2010 hatten wir etwa 10.000 Leute in der Altenpflegeausbildung; jetzt haben wir dort über 18.000. Wir müssen jetzt den nächsten Schritt tun. Das Pflegeschulgeld muss angepasst, das heißt von 280 € auf 500 € erhöht werden. Und wir müssen dafür sorgen, dass der Bund die Rahmenbedingungen bei der Generalistik verbessert und dass die anderen Pflegefachberufe dort eingegliedert werden. Darüber haben wir gestern ausführlich gesprochen. Nur so, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird ein Gesamtpaket draus.
Wir müssen die Städte umgestalten: mehr soziale Stadtentwicklung, ein attraktiver Pflegeberuf und die Stärkung der Selbstbestimmung der Menschen vor Ort. Dazu gehört mehr Quartiersarbeit. Die Stadtentwicklung, die Kommunalpolitik und auch die Pflegepolitik müssen miteinander verschränkt werden und dürfen nicht wie Konkurrenten aufeinander schauen.
Wir müssen das gemeinsam machen; denn das Selbstbestimmungsrecht des Menschen ist das höchste Gut, das wir in unserer Gesellschaft haben. Es kann nicht sein, dass das von politischen Fehlentscheidungen abhängig ist, die wir im Land und im Bund zu verantworten haben. Deswegen lade ich alle ein, an unserem konstruktiven und ausführlichen Antrag zur Gestaltung der Pflege mitzuarbeiten, um das Beste für unser Land herauszuholen. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege.

Der zweite Redebeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt von

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte eigentlich mit Folgendem einleiten: „Ich fand es schade, dass sich das nur auf die Pflege reduziert hat“, aber Frau Altenkamp hat dankenswerterweise den Blickwinkel ein bisschen erweitert.
Ich will ganz kurz zu zwei Punkten Stellung nehmen.
Erstens, Herr Minister: Wir werden Ihnen erheblichen Widerstand entgegensetzen, wenn Sie die verbindliche kommunale Pflegeplanung bekämpfen wollen. Das werden wir dann ja sehen.
Zweitens ist mir ganz wichtig zu betonen: Der Begriff „ambulante Pflege“ ist hier völlig missverstanden. Ambulante Settings sind zum Beispiel auch Pflegewohngemeinschaften oder Demenzwohngemeinschaften im Quartiersumfeld, in denen ambulant gepflegt wird. Da steht eine absolute Begriffsverwirrung im Raum.
(Beifall von Monika Düker [GRÜNE])
„Weiterentwicklung von Pflegeheimen“, liebe Britta Altenkamp, heißt für mich, dass das Heim, wie das die AWO zu großen Teilen tut, Ausgangspunkt für gute Pflege ist, dass im Umfeld Dienstleistungen wie Mittagessen, Pflege, Quartiersarbeit usw. stattfinden. Das kann in unterschiedlichsten Settings geschehen.
Nur – da bin ich ganz anderer Meinung, als es eben dargestellt worden ist – im Moment ist die Situation so, dass die stationären Einrichtungen oftmals Palliativeinrichtungen für die letzte Lebensphase sind. Das halten wir für grundfalsch. Das ist nicht Ziel unserer Arbeit, sondern das Gegenteil soll erreicht werden. Es soll, grob gesagt, ein einziges Setting sein.
Aber wir wollen nicht, dass man Menschen, weil die Ehefrau oder der Ehemann nicht mehr pflegen kann, in die Heime abschieben muss. Das wollen wir ausdrücklich nicht. Das ist das Gegenteil von Wahlfreiheit. Wir wollen auch nicht, dass quasi an der Miete oder an den Settings verdient wird, aber an der Pflege nicht. Das wollen wir ausdrücklich nicht. Wir wollen keine Geschäftemacherei auf Kosten der Pflegebedürftigen. Das ist das Gegenteil von dem, was wir wollen. Da habe ich den Eindruck, dass mindestens eine Fraktion eine gewisse Tendenz dorthin hat, während eine andere Fraktion schlicht gar nichts verstanden hat. – Vielen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

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