Mehrdad Mostofizadeh: „Die Arbeit müssen immer noch die Menschen machen“

Aktuelle Stunde auf Antrag der SPD zum Arbeitszeitgesetz

Mehrdad Mostofizadeh

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schmitz, es ist schon beeindruckend, wie Sie die Probleme der Arbeitswelt verniedlichen und als Randthemen, als völlig hergeholt, als kapitalistische Merkwürdigkeiten der Sozialdemokraten darstellen.
Ich kann Ihnen nur aus eigener Erfahrung sagen: Was nutzt mir die Digitalisierung im Pflegealltag? Die Arbeit, Herr Kollege Schmitz, müssen immer noch die Menschen machen. Das ist ein harter Job. In der Art und Weise, wie Sie eben geredet haben, machen Sie sich ein Stück weit lustig darüber.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
In dem Antrag, der jetzt in den Bundesrat eingebracht wurde, Herr Kollege Arbeitsminister, postulieren Sie Dinge nebeneinanderher – ich habe mir die Bundesratsdrucksache extra herausgesucht –, die so widersprüchlich sind, dass sie einfach nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Da werden Sie Ihrem Anspruch, eine vernünftige und sachgerechte Arbeitsmarktpolitik zu machen, keineswegs gerecht. Das werde ich anhand eines Zitats belegen, Herr Minister Laumann.
Hier steht, dass „die Möglichkeit einer flexiblen Anpassung … zum Erhalt und weiteren Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit“ notwendig sei und dies gleichzeitig mit dem „Schutz der Gesundheit in Einklang gebracht“ werde. Das sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe.
Wenn wir die Schicht nach zwölf Stunden Arbeit nicht beenden können, weil schlichtweg nicht genug Fachkräfte da sind, was soll dann so ein Postulat? Sie müssen dafür sorgen, dass die Arbeitsstrukturen so sind, dass die Arbeit gemacht werden kann, und dürfen nicht an den Arbeitszeitgesetzen rumfummeln.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Vielleicht betrachten Sie das auch einmal aus der Sicht der Betroffenen, Herr Kollege Schmitz. Die FDP sagt, die Veränderungen der Arbeitszeiten im Gaststättengewerbe seien die Folge der Digitalisierung. Was das sachlogisch miteinander zu tun hat, kann ich nicht nachvollziehen.
Das Lieblingsbeispiel der FDP ist die Hochzeitsfeier, die statt zehn Stunden zehneinhalb Stunden dauert. Ich kann Ihnen nur sagen: Eine fähige Arbeitszeitplanung würde dafür sorgen, dass dann eben zwei Schichten da sind. Das kostet natürlich mehr Geld, aber die Frage ist doch, wer am Ende die Zeche zahlt, die Arbeitgeber oder die Beschäftigten mit einem kaputten Rücken sowie die gesetzlichen Krankenkassen, weil die Gesundheitskosten steigen. Das ist nicht fair, das müssen wir regeln. Dafür müssen wir einen Ausgleich hinbekommen.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Zurufe von der CDU – Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Regen Sie sich doch nicht so auf!)
– Doch, Herr Arbeitsminister, ich rege mich auf und will Ihnen einen Schwank aus dem Leben erzählen.
Die Situation in der Altenpflege – Sie wissen das doch ganz gut – ist folgendermaßen: Wir haben in der ambulanten Altenpflege – das schreiben Sie selber auch immer – viel zu wenige Fachkräfte, um die Arbeit zu machen. Es läuft dann so: Man fährt abends die Schicht, manchmal bis 21 Uhr. Dann muss man noch die Dokumentation machen, und es ist 22 Uhr. Morgens um halb sechs sind die Leute wieder am Start, weil jemand ausgefallen ist.
Sie sagen: Das wollen wir nicht nur irgendwie hinnehmen, sondern das muss doch im Rahmen von Flexibilisierung möglich sein, weil die Leute dann möglicherweise auch mehr Geld verdienen. – Das ist nicht das Modell der Zukunft, sondern das ist schlecht für den Arbeitsmarkt. Das ist auch angesichts des Fachkräftemangels in diesem Bereich schlecht. Tun Sie nicht so, als ob man das mit Digitalisierung weghexen könnte, Herr Arbeitsminister.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Aber die Digitalisierung, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP und CDU, immer wieder ins Felde führen, würde sehr wohl auch für die Pflege ganz massive Möglichkeiten bieten. Ich kenne in Institutionen in Bielefeld und anderswo sehr wohl redundant ausgestaltete Dienstpläne, sodass Doppelungen möglich sind und die Arbeitszeitpläne so aussehen, dass man nicht jeden zweiten Tag zum Dienst gerufen wird, obwohl man frei hat.
Es ist mit den jetzigen Arbeitszeitgesetzen sehr wohl möglich, flexibel zu organisieren – für den Arbeitnehmer, die Arbeitnehmerin und den Arbeitgeber. Dann muss man aber bereit sein, die Bedürfnisse der Beschäftigten nicht nur im Allgemeinen zu akzeptieren, sondern sie zu erforschen, im Einzelnen zu dokumentieren und in den Arbeitsplan einzubeziehen. Das ist moderne und faire Arbeitsmarktpolitik und nicht das, was Sie machen, nämlich zulasten der Beschäftigten immer wieder an den Grenzen der Schutzzeiten herumzufummeln, liebe Kolleginnen und Kollegen.
 (Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Damit das nicht so im Allgemeinen bleibt: Uns liegen Studien dazu vor – wir haben sehr gute Institute auf Bundesebene –, was passiert, wenn die Arbeitszeit überschritten wird. Schon nach sechs Stunden Arbeitszeit erhöht sich das Unfallrisiko um 20 %. Nach neun Stunden Arbeitszeit ist das Unfallrisiko fast doppelt so hoch wie bei durchschnittlichen Arbeitszeiten. Und danach ist es eigentlich überhaupt nicht mehr zu tolerieren, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Beispiel im Krankenhaus, aber auch in allen anderen Bereichen tätig werden.
Das sind doch Tatbestände, die wir ernst nehmen müssen. Wir müssen die Menschen und den Arbeitsmarkt so regulieren, dass das nicht möglich wird. Dann muss eben auch Geld auf den Tisch gelegt werden, um das auszuschließen. Das ist der normale Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der Arbeitgeber, der Beschäftigten und der solidarischen Krankenkassen. Das müssen wir gemeinsam hinbekommen, ohne immer an den Randzeiten herumzuschrauben, Herr Minister.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Zur Flexibilität – das ist in dem Zusammenhang gar nicht angesprochen worden –: Kollege Becker ist für uns in der Enquetekommission zur Digitalisierung des Arbeitsmarktes. Ich verstehe die Art, wie die Debatten geführt werden, zum Teil gar nicht mehr.
Kollege Neumann hat vorhin schon darauf hingewiesen: Natürlich ist es dem Arbeitnehmer möglich, zu unterschiedlichen Zeiten Arbeiten auszuführen, zum Beispiel sein Kind abzuholen und dann vielleicht wieder am Arbeitsplatz neue Tätigkeiten aufzunehmen. Aber in der jetzigen Konstruktion bestimmt der Arbeitnehmer, ob das zusätzlich möglich ist, und nicht der Arbeitgeber. Das ist doch der wichtige Unterschied bei der ganzen Angelegenheit.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Eine letzte Bemerkung: Es würde sich lohnen, Herr Kollege Schmitz, da vielleicht gemeinsam voranzugehen. Ihre Aussage, die Gewerkschaften wären mit im Boot, war fast schon am Rande von Fake News. Zum DGB haben die Kolleginnen und Kollegen der SPD sogar ein Zitat angeführt. Es waren doch die führenden Gewerkschaften und auch der Deutsche Gewerkschaftsbund, die gesagt haben: Macht das nicht so! Hört im Bundesrat mit dieser Resolution auf! Ihr habt die Gewerkschaften nicht mit an Bord. – Sie haben hier eine infame Falschdarstellung vorgenommen. Deswegen war die Aktuelle Stunde offensichtlich notwendig.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Der zweite Redebeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt von
Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Arbeitsminister hat eben wieder eine große Geschichte über die Flexibilisierung der Arbeitszeiten vorgetragen. Aber lassen Sie uns doch einfach wieder auf den Kern zurückkommen, über den wir heute reden, Herr Minister Laumann.
In Ihrem Antrag an den Bundesrat geht es nicht um die generelle Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes, sondern darum, die Vereinbarung der täglichen Arbeitszeit zu einer Vereinbarung der wöchentlichen Arbeitszeit umzufunktionieren und die Ruhezeiten zu verkürzen. Das soll auch noch mit einem angemessenen Schutz für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einhergehen.
Da ist nicht die Rede davon, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Anrecht erhalten sollen, Pflegezeiten zu bekommen, Betreuungszeiten für Kinder zu bekommen oder andere Flexibilisierungen zu bekommen, die ihnen nutzen würden. Vielmehr ist das eine einseitige Beschränkung der Arbeitnehmerrechte zugunsten der Arbeitgeber.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD) Das ist die Wahrheit, über die wir heute reden.
Lassen Sie mich noch einige Zahlen nennen, damit wir nicht im luftleeren Raum schweben, wo Sie ein Bild zeichnen, dass hier die Verrückten sind, die die Arbeitnehmerrechte schützen und im vorherigen Jahrhundert zur Zeit der Brennöfen leben. Was die Verbrennung der Braunkohle anbetrifft, sind Sie ja ganz vorne dabei, das immer voranzustellen. Vielleicht sind Sie doch ein bisschen zurückgeblieben, was die Beurteilung dieser Zeiten anbetrifft.
Bezüglich der Souveränität von Arbeitszeitregelungen hat der DGB Folgendes erhoben: 54 % der Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer haben keinen oder wenig Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitszeiten. 20 % der Beschäftigten ohne Abschluss haben gar keinen Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitszeiten.
Was die Frage der Fähigkeiten anbelangt, ist Folgendes festzuhalten: Es gibt eine Zweiklassengesellschaft. Diese Problematik wird sich noch verschärfen. Durch die zunehmende Digitalisierung, die zunehmende Arbeitszeit und die Möglichkeiten des Homeoffice wird es sich natürlich noch einmal zulasten der weniger gut qualifizierten Arbeitskräfte verschlechtern. Wir werden das nicht durch ein Arbeitszeitgesetz regeln können, sondern müssen uns möglicherweise andere Gestaltungsoptionen vornehmen.
Wir können doch nicht verschweigen, dass alles das zur Realität des Arbeitsalltags der Menschen hier in Deutschland und in ganz Europa gehört, Herr Minister.
Eines möchte ich Ihnen auch noch sagen, weil die Kollegin Kapteinat es eben noch einmal angesprochen hat: Vergessen Sie nicht die Kosten dafür, dass Menschen länger arbeiten müssen. Ich habe mir die Zahlen eben noch einmal herausgeholt. Nach zwölf Stunden Arbeitszeit verdoppelt sich das Risiko eines Arbeitsunfalls. Es verdoppelt sich! Schon nach sieben Stunden ist es erheblich erhöht und nach acht Stunden in besonderer Weise erhöht. Das müssen Sie als Minister, der für Arbeitsschutz zuständig ist, doch wissen. Deswegen kann es doch nicht sein, dass wir immer am Rand herumschrauben.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen: Wir, die wir im politischen Alltag unterwegs sind und sehr viel Flexibilität an den Tag legen müssen und das sicherlich auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern abfordern – das sage ich Ihnen aus eigener Erfahrung –, haben eine hohe Verantwortung für unsere Leute, eben nicht zuzulassen, dass sie den ganzen Tag erreichbar sind und immer wieder die Mails checken. Das elektrisiert die Leute und stellt sie dauernd unter Strom. Wir haben eine Verantwortung in der gesamten Gesellschaft dafür, das auszuschließen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Deswegen finde ich die Art und Weise der Debatte auch sehr beachtlich. Wenn man hört, dass ein Lkw-Fahrer bis Wuppertal fährt und aufgrund der Lenkzeitbeschränkungen die letzten 20 km dann nicht mehr weiterfahren darf, denkt man natürlich auch: Ach, was ist das unflexibel. – Aber die Wahrheit ist doch andersherum. Dass er überhaupt bis dahin gekommen ist, liegt doch an der fehlenden Planung, die vorher geschehen ist. Das gehört doch auch zur Wahrheit dazu.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist das im Arbeitsalltag immer ein Aushandeln der Rechte der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. Natürlich gibt es schlechte und gute Arbeitsverhältnisse. Das ist gar keine Frage. Aber wir haben als Gesetzgeber eine hohe Verantwortung, dafür zu sorgen, dass ein fairer Ausgleich erfolgt. Dazu mag es auch unterschiedliche flexible Modelle geben.
Aber unser Arbeitszeitgesetz bietet – anders, als hier immer suggeriert wird – sehr viele Möglichkeiten der Flexibilisierung, wenn sie denn angewandt werden. Es wäre aller Ehren wert, das in der Enquetekommission weiter zu diskutieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

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