Mehrdad Mostofizadeh: „Auch wir Grünen haben viele Fragen, und wir wollen diese Fragen vorbehaltlos stellen“

Unterrichtung der Landesregierung zum Terroranschlag in Berlin

Mehrdad Mostofizadeh

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Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn meiner Rede möchte ich zunächst der Ministerpräsidentin danken, die, wie ich finde, in sehr angemessener Weise mit uns der Opfer gedacht hat. Sie hat zudem in sehr ruhigem Ton Orientierung gegeben
(Zurufe von der CDU)
und die Inhalte vorgetragen, die wir heute wissen können.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Im Fall Amri brauchen wir vorbehaltlose und umfassende Aufklärung – auch und gerade weil Wahlkampf ist. Deswegen unterstützen wir das Vorhaben der Landesregierung, hier einen unabhängigen – ich betone: unabhängigen – Sondergutachter zu bestellen. Dieser wird, so glauben wir, schnell und umfassend für Klarheit sorgen, indem er die Unterlagen durcharbeitet. Denn auch wir Grünen haben viele Fragen, und wir wollen diese Fragen vorbehaltlos und ohne jegliche Scheuklappen stellen können. Das werden wir auch weiterhin tun.
Wir brauchen Aufklärung in genau zwei Richtungen:
Erstens. Gab es Fehler bei den Behörden und Institutionen, und wenn ja, welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen?
Zweitens. Müssen wir die Gesetze und Regelungen aufgrund unserer Erkenntnisse – und nicht aufgrund vorheriger politischer Programme – ändern und möglicherweise an die Gefahrenlage anpassen?
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es darum geht, ohne Scheuklappen aufzuklären, gibt es dazu offensichtlich unterschiedliche Einschätzungen zwischen der CDU und uns. Die CDU betreibt doch ein Doppelspiel. In Berlin verhindert sie eine Sitzung des Bundestagsinnenausschusses, und in Nordrhein-Westfalen können die Gremien gar nicht schnell genug zusammentreten.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Nur ein Schelm käme auf die Idee, das könnte möglicherweise daran liegen, dass in Berlin der Bundesinnenminister von der CDU und in NRW der Innenminister von der SPD gestellt wird. Während im Landtagsinnenausschuss seitenlang Fragenkataloge innerhalb weniger Tage beantwortet werden – ich finde das auch gut so –, sieht sich der Bundesinnenminister nicht in der Lage, Herr Kollege Laschet, eine fristgerechte Beantwortung der Kleinen Anfrage der grünen Bundestagsfraktion vorzunehmen. Die Frist ist gestern Abend abgelaufen. – Das ist das Aufklärungsinteresse des Bundesinnenministers in dieser Frage.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD – Zurufe von der CDU)
Aber obwohl es so schwierig ist, diese Fragen zu beantworten, hatte Kollege de Maizière schon wenige Tage nach dem Anschlag alle Antworten und Schlussfolgerungen fix und fertig auf dem Tisch und hat sie präsentiert.
Herr Kollege Laschet, damit hier kein falscher Eindruck in der Öffentlichkeit entstehen kann: Sie sind, auch ohne uns zu fragen, in der Lage, einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss für den Landtag zu beantragen. Suggerieren Sie nicht, wir würden Sie daran hindern! Stellen Sie den Antrag! Dann gibt es einen Untersuchungsausschuss.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Noch ein Punkt, den Kollege Stamp eben angesprochen hat: Wir hatten Ihnen angeboten, ein gemeinsames Gutachten der Parlamentsfraktionen zu beauftragen, und Sie hatten durchaus Ihre Bereitschaft erklärt, daran mitzuarbeiten. Daher ist es auch egal, welche Einschätzung die Landesregierung gibt; denn das Parlament kontrolliert die Regierung und nicht die Regierung das Parlament. Es wäre gut gewesen, ein gemeinsames Gutachten mit gemeinsamen Fragen zu beauftragen. Das ist leider nicht gelungen – sehr schade.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Bevor die Fragen aufgeklärt sind und bevor ein Untersuchungsausschuss seine Arbeit aufgenommen hat, hat der Bundesinnenminister reflexhaft seine Anforderungen zusammen mit Gesetzesverschärfungen auf den Tisch gelegt: mehr Video- und Telekommunikationsüberwachung, neue Strafverschärfungen, der Einsatz der Bundeswehr im Innern, weitere Befugnisse und geringere Kontrollen der Nachrichtendienste und damit eine immer größere Aushöhlung unserer Grundrechte ohne einen für uns erkennbaren oder gar messbaren sicherheitspolitischen Mehrwert.
Das ist keine seriöse Antwort, die auf der Auswertung von Fakten beruht. Das gilt auch für die Unionsfraktion hier im Landtag, die ohne Auswertung der Fakten diese Kiste ausräumt und alle sicherheitspolitischen Maßnahmen, die sie immer schon mal gefordert hat, auf den Tisch legt. Das sind Ladenhüter, die einer Antwort nicht gerecht werden.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Ich frage Sie: Haben Sie eigentlich keine Fragen an Herrn de Maizière? – Wir hätten schon einige, zum Beispiel: Was ist denn gewesen, als das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jahrelang meterweise Anträge aufgehäuft hat und die Mitarbeiter Hunderttausende von Anträgen nicht abarbeiten konnten? – Die Registrierung ist zusammengebrochen. Und erst Ihre eigene Kanzlerin musste die Notbremse ziehen und Herrn de Maizière den Kanzleramtsminister Peter Altmaier vor die Nase setzen, um diese Behörde wieder auf Trab zu bringen. Auch deswegen kann es sein, dass ein Mann wie Anis Amri mehrere BüMA-Bescheinigungen bekommen konnte, ohne vom Bund identifiziert worden zu sein.
Uns interessiert auch, Herr Laschet, warum der Bundesinnenminister im letzten Jahr nach Tunesien, Marokko und Algerien gereist ist, um dort für Rücknahmeabkommen zu werben, und warum es bis heute nicht gelingt, die Menschen zurückzuführen. Rückführungen in diese Staaten erfolgen allenfalls tröpfchenweise.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Für die Durchsetzung der Interessen der Bundesrepublik Deutschland bei der Rückführung der Menschen bedarf es keiner einzigen Gesetzesänderung, sondern einfach nur guter Politik, einfach nur eines Rücknahmeabkommens, das sicherstellt, dass auch die Maghrebstaaten internationale Spielregeln einhalten. Dafür ist Bundesinnenminister Thomas de Maizière ganz persönlich verantwortlich.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Möglicherweise wäre Anis Amri schon längst nach Tunesien abgeschoben worden, wenn Herr de Maizière seine eigenen Versprechungen eingehalten hätte.
Wir Grüne setzen uns für eine vorbehaltlose Aufklärung des Behördenhandelns ein –
(Michele Marsching [PIRATEN]: Hätte, hätte, Fahrradkette!)
und ich meine: des wirklichen Handelns der Behörden, die unter Zeitdruck Prognosen abgeben müssen und unter Personalmangel leiden. Deswegen lese ich Ihnen einmal vor, was der „Spiegel“ in seiner neuesten Ausgabe über das Landeskriminalamt Berlin sagt:
„Das Landeskriminalamt Berlin, das Amri auf richterliche Anordnung überwachen sollte, konnte die Aufgabe mangels Personal und Ressourcen von Anfang an nur anlassbezogen erfüllen.“
Das ist nach fünf Jahren CDU-Innensenator und zwölf Jahren Bundesinnenminister seitens der CDU die wirkliche Welt der Sicherheitsbehörden in unserer Bundeshauptstadt: eine personell unterbesetzte Polizei, die mit ausgemusterten Pistolen aus Schleswig-Holstein auf die Straße geschickt wird, und wo die Operativmaßnahmen zu Gefährdern mangels Personal nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden können.
(Zuruf von den GRÜNEN: So ist das!)
Sind dass, Herr Kollege Laschet, die Zonen der unterschiedlichen Sicherheit, die Sie vorhin in Ihrer Rede beschrieben haben? Erst jetzt, wo der Regierungswechsel im Berliner Abgeordnetenhaus stattgefunden hat, werden 1.000 neue Stellen bereitgestellt und neue Sicherheitsausrüstungen für die Polizei beschafft. Was wir dort bislang gesehen haben, das war die Polizei des schlanken Staates!
(Beifall von den GRÜNEN)
Die Wahrheit ist doch: Ein schlanker Staat ohne ausreichende Mittel ist ein schwacher Staat. Und ein schwacher Staat kann nicht für ausreichend Sicherheit sorgen. Das ist der Unterschied zwischen Nordrhein-Westfalen einerseits und dem Land Berlin sowie dem Bund auf der anderen Seite.
Wir haben hier in Nordrhein-Westfalen bei der Polizei, bei der Justiz, bei der Staatsanwaltschaft und auch beim Verfassungsschutz mehr Stellen geschaffen. Auch haben wir für eine sehr gute Ausrüstung gesorgt. Während die CDU – auch 2013 und 2014 geschah das – immer wieder Personalabbau predigte, haben wir für mehr Sicherheit gesorgt. Die Menschen müssen diese CDU-Politik bitter bezahlen: erst mit weniger Sicherheit und dann auch noch mit dem Abbau von Bürger- und Freiheitsrechten. Das ist nicht in Ordnung!
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Ich will an dieser Stelle auch sehr klar sagen: Wir machen mit unserem Antrag deutlich, dass wir Vorschläge, auch wenn sie nicht von uns kommen, nicht reflexhaft ablehnen, sie aber auch nicht unkommentiert und ungeprüft übernehmen. Wir wollen den Begriff „Gefährder“ verfassungsgemäß gesetzlich definieren, und wir wollen die Gefährder besonders in den Blick nehmen. Wir setzen uns für einen länderübergreifenden Informationsaustausch ein, wollen aber bewährte Strukturen nicht einfach zerschlagen. Unser Handeln ist zielgerichtet und nicht aktionistisch, so wie Ihres!
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Herr Laschet, nach all dem, was ich beschrieben habe, merken Sie ja schon, dass auch bei Ihnen einiges falsch läuft, und halten sich deswegen mit Rücktrittsforderungen gegenüber dem Innenminister hier in Nordrhein-Westfalen etwas zurück.
Schlichtere Gemüter wie den Kollegen Sieveke, Vorsitzender des Innenausschusses, stört das offensichtlich weniger. Für ihn ist das Hauptproblem der deutschen Sicherheitspolitik – ich zitiere – „das falsche und kranke Staatsverständnis der Grünen“, einer Partei, die ja offensichtlich, wie wir wissen, Heerscharen von Bundesinnenministern stellt! – Die „kranke Gedankenwelt, die tief in der grünen Parteiseele verankert ist“ soll an allem schuld sein – so Sievekes politpsychiatrisches Gutachten.
(Norwich Rüße [GRÜNE]: Unverschämt! Unglaublich!)
Herr Kollege Laschet, ich habe Sie das letztes Jahr schon in Bezug auf Herrn Kruse gefragt: Ist das Ihre Meinung? Ist das die Position der CDU Nordrhein-Westfalens? Ist das der neue Stil der Auseinandersetzung, die wir hier im Wahlkampf zu erwarten haben? Darauf hätte ich gerne eine Antwort!
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Die FDP – das hat sie eben noch einmal deutlich gemacht – fordert den Rücktritt des Innenministers von Nordrhein-Westfalen, aber nicht den des Bundesinnenministers und auch nicht den des Generalbundesanwaltes. Warum eigentlich nicht?
(Michele Marsching [PIRATEN]: Warum eigentlich?)
Für uns stellt sich zum Beispiel die Frage, warum der Generalbundesanwalt das Verfahren gegen Anis Amri nach unten, also nach Berlin wegdelegiert hat. Hat das möglicherweise etwas mit der Personallage in dieser Institution zu tun? Hat das vielleicht etwas mit der schlechten Personalausstattung durch den Bundeshaushalt zu tun? Wieso ist eigentlich die Einstellungsverfügung in dem Strafverfahren gegen Anis Amri seitens der Generalstaatsanwaltschaft Berlin bis heute nicht aufgetaucht? Und wieso haben die Verfassungsschutzämter des Landes Berlin und des Bundes Herrn Amri nach Einstellung des Verfahrens nicht wieder ins Visier genommen?
Das alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind doch wichtige Fragen. Das muss aufgeklärt werden, damit wir nicht voreilig Strukturen zerschlagen, die wir eigentlich noch brauchen, und Gesetze verschärfen, die wir eigentlich nicht brauchen!
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Aber auch Herr Lindner hatte bereits die Schuldigen ausgemacht. Für ihn ist es – und ich zitiere hier erneut – „die Lichterkettendenke der Grünen“, die das Vertrauen in unseren Rechtsstaat untergräbt.
(Michele Marsching [PIRATEN]: Gerade war es noch eine Fahrradkette!)
Wissen Sie eigentlich, wo die Lichterketten zuletzt groß zum Einsatz gekommen sind? Das war Anfang der 90er-Jahre hier in Nordrhein-Westfalen, als es Übergriffe auf Flüchtlingsheime und einen Anschlag auf eine türkische Familie in Solingen gab, bei dem mehrere Menschen zu Tode gekommen sind. Ich finde das infam und abscheulich!
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Ich empfehle Ihnen, ehrlich gesagt, auch einen Ausflug ins Internet. Da können Sie mal sehen, wo Sie da in Bezug auf Ihre Rhetorik Anleihen machen. Obwohl Sie ein Fairnessabkommen für den Landtag herbeiführen wollten, nehmen Sie Anleihen zum Beispiel bei „Politically Incorrect“ oder bei „Politikstube“. Das sind rechtspopulistische Hetzer, die genau einen solchen Wortlaut aufnehmen.
Wenn Sie, Herr Kollege Lindner, auch noch suggerieren, dass nach Tunesien und in andere Länder nur abgeschoben werden kann, wenn sie als sichere Herkunftsländer deklariert sind, dann ist auch das in der Sache falsch und infam.
(Beifall von den GRÜNEN)
Tatsächlich stehen wir Grüne für mehr Rückführung in diese Länder. Das scheitert – ich habe es eben schon einmal ausgeführt – aber daran, dass die Passpapiere nicht vorliegen. Hier müsste Herr de Maizière liefern; für jede Abschiebung in ein anderes Land und für jede Rückführung sind Passpapiere erforderlich. Hier scheitert der Bundesinnenminister gnadenlos.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich will es an dieser Stelle deutlich sagen: Wir Grünen wollen den islamistischen Terror entschieden bekämpfen, und zwar mit allen – ich betone: mit allen – rechtsstaatlichen Mitteln, präventiv und repressiv. Deswegen setzen wir konsequent auf rechtsstaatliche, grundrechtsschonende und sicherheitsfördernde Maßnahmen, auf die zielgerichtete Abwehr von Gefahren sowie die effektive Beobachtung und Festsetzung von Gefährdern, statt wie Sie auf untaugliche und sicherheitspolitisch außerordentlich fragwürdige Massenüberwachung oder andere Placebos.
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten jetzt eigentlich ein Zusammenarbeiten in der Politik. Sie haben kein Verständnis dafür, wenn politische Geländegewinne auf Kosten der Freiheit und der Sicherheit gemacht werden sollen. Auch wenn Sie jetzt das gemeinsame Gutachten ausgeschlagen haben, bitte ich Sie dennoch um die Bereitschaft, die Gutachten, wenn sie denn vorliegen, gemeinsam auszuwerten und zu verwerten.
Dafür biete ich Ihnen ausdrücklich die Zusammenarbeit der Koalitionsfraktionen an. Das sind wir den Opfern, den Bürgerinnen und Bürgern und unserem Rechtsstaat schlichtweg schuldig. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

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