Matthi Bolte: „Viele Bürgerinnen und Bürger durchdringt das Gefühl, dass Freiheit und Sicherheit aus der Balance zu geraten drohen.“

Antrag der FDP zur technischen Überwachungsdoktrin

Matthi Bolte (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es fällt mir gerade, ehrlich gesagt, nicht ganz leicht, anhand dieses Beispiels eine grundsätzliche Debatte über Freiheit und über Bürgerrechte in Europa zu führen, während wir parallel zu unseren Beratungen mitten in Europa eine massive Auseinandersetzung über die Öffnung eines Landes zur europäischen Wertegemeinschaft erleben. Viele mutige Menschen in Kiew, in der Ukraine versuchen, ihr Land für die europäische Wertegemeinschaft, für Demokratie, für bürgerliche Freiheitsrechte zu öffnen. Ich denke, viele von Ihnen sind in Gedanken mit mir bei diesen Menschen und auch bei den Familien derer, die in dem Kampf in den vergangenen Tagen und Nächten bereits ihr Leben verloren haben.
(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und der CDU)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Vorbemerkung war mir ein Anliegen, weil sie zeigt, dass Freiheitsrechte auch daraus erwachsen, dass mutige Menschen für Bürgerrechte einstehen. Freiheitsrechte müssen immer wieder verteidigt und erkämpft werden. Insofern wird mit dem Antrag natürlich ein relevantes und wichtiges Thema aufgegriffen. Ich kann direkt am Anfang sagen, dass die Beratungen im Ausschuss sicherlich interessant sein werden.
Ich bin sicher, viele Menschen haben durch die Berichterstattung in den vergangenen Wochen erstmalig von der Arbeitseinheit ENLETS gehört. Der eigentliche Auftrag der Arbeitsgruppe ist auch nicht grundsätzlich falsch. ENLETS soll eine gesamteuropäische Entwicklung von Sicherheitstechnologien ermöglichen. Best Practice soll ausgetauscht und gesamteuropäische Polizeiarbeit koordiniert werden. Aus meiner Sicht spricht eigentlich nichts dagegen, dass sich die europäische Polizei austauscht – in dem Punkt fand ich die Entschließung der Piratenfraktion sehr differenziert und vernünftig –, gerade weil es neue Kriminalitätsphänomene gibt, auf die reagiert werden muss. Dass die Sicherheitsbehörden dabei auch darüber reden, wie sie mit dem technologischen Wandel umgehen, wie sie Technologien nutzen können, dagegen ist im Rahmen dessen, was bürgerrechtlich, grundrechtlich verhältnismäßig ist, sicherlich nichts einzuwenden.
In ihrem vorliegenden Antrag stellt die FDP nur einen Teilbereich der öffentlich verlautbarten Ergebnisse aus der Arbeitsgruppe dar, der für viele allerdings ein Stück weit nach einer Science-Fiction-Dystopie klingt. Viele Bürgerinnen und Bürger durchdringt das Gefühl, dass Freiheit und Sicherheit aus der Balance zu geraten drohen. Insofern ist es nicht verkehrt, sich darüber auszutauschen.
Es ist vor allem notwendig, meine Damen und Herren, Klarheit darüber zu schaffen, was es mit den Vorschlägen genau auf sich hat, ob das tatsächlich konkret weiterverfolgt werden soll oder ob man da einfach die polizeilichen Daniel Düsentriebs hingesetzt hat,
(Heiterkeit von Minister Ralf Jäger)
die sich Gedanken darüber gemacht haben, was gehen könnte. Ich finde, darüber brauchen wir zuvorderst Transparenz.
(Beifall von Sigrid Beer [GRÜNE])
Wir brauchen konkrete Informationen darüber, welche Probleme gelöst werden sollen, und vor allem, wie die Fragen verhältnismäßig und im Einklang mit den Grundrechten, mit den bürgerlichen Freiheitsrechten gelöst werden können. Ich gebe ehrlich zu, dass ich gewisse Zweifel daran habe, ob es das drängendste Problem der europäischen Innenpolitik ist, wie man nicht kooperationsbereite Autofahrer stoppt. Solche Fragen lassen sich sicherlich in der Ausschussberatung klären, wenn wir die notwendigen Hintergrundinformationen bekommen.
Meine Damen und Herren, rein vom Verfahrensstand – das ist schon von meinen Vorrednern gesagt worden – ist eines klar: Wir sprechen zurzeit noch über ungelegte Eier. Wenn es akut wird, dann ist es doch selbstverständlich, dass wir keine verfassungswidrigen Initiativen zulassen werden. Ich bin mir sicher, die Landesregierung wird sich, sofern es überhaupt zu einem Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Union mit diesen Vorzeichen kommen sollte, für die Beachtung hoher Standards zum Grundrechtsschutz einsetzen. Dafür gibt es ja das Verfahren im Bundesrat. Dafür gibt es die verschiedenen Möglichkeiten, sich damit zu befassen, wenn es konkret wird. Damit können genau solche Fragen angegangen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehe davon aus, dass wir eine interessante Debatte im Ausschuss haben werden. Im Europaausschuss haben wir ja in der letzten Zeit mehrfach versucht, uns zu verständigen, wenn es um Themen ging, bei denen wir in eine ähnliche Richtung gedacht haben. Möglicherweise sieht es am Ende der Beratung zu diesem Punkt genauso aus. Insofern freue ich mich auf die Beratung im Ausschuss. – Ganz herzlichen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)