Matthi Bolte (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Bürgerinnen und Bürger in NRW wollen mehr Demokratie“, heißt es in der Problembeschreibung des von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurfs, liebe Piratenfraktion. So weit, so gut. Wahrscheinlich haben – das würde ich jetzt einmal vermuten – aus genau diesem Grund die Bürgerinnen und Bürger am 13. Mai dieses Jahres hier in Nordrhein-Westfalen zwei Parteien in die Regierung gewählt, die sich in diesem Bereich unheimlich viel vorgenommen haben und in der letzten Wahlperiode – das haben Sie eben geflissentlich unter den Tisch fallen lassen – auch viel erreicht haben.
(Beifall von Sigrid Beer [GRÜNE] und Hans-Willi Körfges [SPD])
Wir wollen mehr Demokratie fördern. Deswegen haben wir in den letzten zwei Jahren Volksbegehren erleichtert. Wie die Kolleginnen und Kollegen, die das begleitet haben, wissen, war auch das kein ganz einfacher Prozess. Wir haben Bürgerbegehren und Bürgerentscheide erleichtert. Wir haben die Stichwahl wiedereingeführt. Wir haben die Möglichkeit zur Abwahl von Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern geschaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind Fortschritte. Wir haben uns aber auch viel vorgenommen. Hans-Willi Körfges hat eben schon einige Punkte angesprochen. Natürlich müssen wir an das Quorum bei den Volksbegehren herangehen. Wir haben auch die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre wieder auf der Agenda stehen. Außerdem haben wir uns vorgenommen, den neuen Stil, Betroffene zu Beteiligten zu machen, den wir mit der Minderheitsregierung in den letzten 20 Monaten etablieren konnten, fortzusetzen, das Ganze mit den Chancen des digitalen Wandels zusammenzubringen und Open Government in Nordrhein-Westfalen Wirklichkeit werden zu lassen.
Insofern halte ich Nordrhein-Westfalen schon für ein Land, das die große demokratische Revolution nicht so dringend braucht, wie das in dem Redebeitrag des Kollegen von der Piratenfraktion anklang.
(Beifall von Hans-Willi Körfges [SPD])
Ich gebe durchaus zu, dass wir einige Punkte haben, an denen wir weiter arbeiten wollen. Allerdings frage ich mich schon, ob eine verbindliche Volksabstimmung über jede Verfassungsänderung in Nordrhein-Westfalen tatsächlich die große demokratische Revolution ist, als die Sie sie hier eben präsentiert haben.
Ich will Verfassungsänderungen noch ein bisschen einordnen; Herr Biesenbach hat auch schon einiges dazu gesagt. Eine Verfassungsänderung ist etwas, was es nicht einfach so gibt. Das macht man auch nicht einfach so hier in diesem Parlament. Viele Verfassungsänderungen bilden große gesellschaftliche Diskussionen ab. Erinnern Sie sich bitte beispielsweise an die Aufnahme des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen in die Verfassung. Da haben wir es nicht mit einer Idee zu tun, die irgendwelche Menschen in irgendwelchen Parlamenten sich ausgedacht haben, sondern mit der Abbildung von teilweise jahrzehntelangen gesellschaftlichen Debatten, die sich dann in einer Verfassungsänderung niederschlagen.
Weil Verfassungsänderungen etwas Besonderes sind, gibt es auch die besonderen Regelungen, die bereits angesprochen worden sind; denn Änderungen der Verfassung sollen übergreifend über die politischen Lagergrenzen erfolgen, damit die Verfassung einen langen und dauerhaften Bestand hat.
Ich will aber auf etwas eingehen, was mich deutlich mehr beschäftigt. Das sind die großen Linien und nicht alleine diese Frage der Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung. Da haben wir als regierungstragende Fraktionen im Koalitionsvertrag den richtigen Weg vorgeschlagen. Wir wollen nämlich eine Verfassungskommission einführen, in der wir intensiv diskutieren wollen: Wie schaffen wir es, mehr Demokratie in Nordrhein-Westfalen zu verwirklichen – mit den vielen Punkten, die wir in der Vergangenheit schon diskutiert haben? Wie schaffen wir es, auch unser Parlament für die Zukunft fit zu machen und es zukunftsfest aufzustellen?
Herr Biesenbach, ich sehe es übrigens nicht so, dass direkte Demokratie und repräsentative Demokratie zwingende Gegensätze sein müssen. Direkte Demokratie ist aus unserer Sicht nach wie vor eine sinnvolle, wirkungsvolle, wirkmächtige Ergänzung zur repräsentativen Demokratie. Deshalb fördern wir sie auch.
(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und den PIRATEN)
Welchen Veränderungsbedarf gibt es bei unserer Verfassung im 21. Jahrhundert, in dem wir leben? Ich sehe da einige Eckpunkte, an denen wir gemeinsam arbeiten können. Schließlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Welt, in der wir heute leben, eine andere ist als die Welt im Juni 1950, als die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen durch Volksentscheid angenommen wurde.
Wir haben das große Glück, in einem vernetzten, vereinten und friedlichen Europa leben zu dürfen. Im Zuge dieser europäischen Einigung gibt es eine ganz neue Rolle für die Nationalstaaten, aber auch für die Länder. Ich glaube, dass es diese großen Linien sind, die wir hier als Landtag und als Land Nordrhein-Westfalen gestalten müssen. Unsere Rolle wird es sein, die Diskussion zu führen, bei der es darum geht, unsere Rolle in einem vereinten und friedlichen Europa neu zu definieren und uns für das 21. Jahrhundert fit zu machen.
Ich bin überzeugt, das geht nicht mit der Brechstange, sondern nur auf der Basis einer sehr vernünftigen Debatte, an der sich viele beteiligen. Da wird dann sicherlich auch das Vorhaben, das Sie heute auf den Tisch gelegt haben, eine Rolle spielen. Diese Debatte wollen wir gemeinsam führen. Dazu haben wir uns bereits alle gegenseitig eingeladen. Ich hoffe, dass wir dann auch alle gemeinsam daran arbeiten. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN)