Matthi Bolte: „Sie sagen auch nicht, welchen Mehrwert das haben soll“

Antrag der PIRATEN zu Thema Überwachung und Transparenz

Matthi Bolte (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Der Kollege Kruse hat es gerade schon angesprochen: Über die Vorratsdatenspeicherung debattieren wir morgen. Das muss auch nicht Schwerpunkt dieser Debatte sein. Gleichwohl wissen Sie alle, dass ich den Beschluss des SPD-Parteikonvents für falsch halte. Aber darauf können wir uns ja morgen konzentrieren.
Ich hatte mich bei diesem Antrag eigentlich auf eine schöne akademische Diskussion gefreut. Sie haben ihn ja ganz wunderbar mit Fußnoten aus der NJW unterlegt. Das ist durchaus interessant. Aber Kollege Herrmann hat jetzt doch nur über Vorratsdatenspeicherung geredet. Das ist eigentlich ein bisschen schade, passt aber dazu, dass ich mir aufgrund Ihrer Argumentation nicht ganz sicher bin, ob die Komplexität dessen, was das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil mit dieser Überwachungsgesamtrechnung meint und einfordert, bei Ihnen so recht angekommen ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil festgestellt: Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland. Das Verfassungsgericht hat vor diesem Hintergrund zu Recht eingefordert, dass ein Gesetzgeber, wenn er ein neues Sicherheitsgesetz einbringt, wenn er an Sicherheitsgesetzen Veränderungen vornimmt, eine Gesamtabwägung zwischen vorhandenen Grundrechtseingriffen erstellen muss. Das ist völlig klar, denn das ist gängige Staatspraxis. Das ist vornehmste Aufgabe des Gesetzgebers, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen.
Ich will aus den Zwischenrufen, die wir hier ausgetauscht haben, eines gerne aufnehmen:
Das ist auch eine hochpolitische Frage, und das ist keine Frage, die man nur in einen wissenschaftlichen Forschungsauftrag packen und dann akademisch beantworten kann.
Ihr Antrag aber will genau das. Sie wollen eine politische Frage in einen Forschungsauftrag verpacken und dann an die Wissenschaft delegieren.
(Frank Herrmann [PIRATEN]: Wir müssen erst die Wissenschaft sammeln lassen und es dann politisch bewerten!)
Ihr Antrag liest sich so, dass Sie sich vorstellen: Am Ende des Tages wickelt sich der Justizminister eine Kellnerschürze um und legt Ihnen eine schwarze Kladde auf den Tisch, in der die Überwachungsgesamtrechnung enthalten ist. Das ist das, was in Ihrem Antrag steht.
Sie sagen auch nicht, welchen Mehrwert das haben soll. Das wird in Ihrem Antrag nicht erläutert. Sie sagen auch nicht, unter welchen Prämissen eine solche Forschungsarbeit statt-finden soll. Ist denn eine stille SMS einen Punkt in der Rechnung wert, eine TKÜ 100 Punkte, eine Videoüberwachung 80 Punkte in der Rechnung wert? Bei einer korrekten Kenn-zeichnung werden dann zehn Punkte gutgeschrieben? Und was soll eigentlich ein wissenschaftlich objektiviertes Überwachungsgesamtbudget sein? – Das zeigt doch ein Stück weit die Absurdität dessen, was Sie uns hier vorlegen, nämlich eine solche politische Frage verwissenschaftlichen zu wollen. Es ist eine politische Frage, die wir hier stellen und die wir auch politisch beantworten müssen.
Herr Kollege Herrmann, vergegenwärtigen Sie sich einmal, dass jede und jeder von uns eine andere Gesamtrechnung aufmachen wird. Für Sie und für mich ist die ausufernde Videoüberwachung ein großes Ärgernis, für einige Kollegen von der CDU hingegen – wenn Sie sich an die Debatten im Innenausschuss erinnern – jedoch ein Hochgenuss.
Stellen Sie sich doch einmal vor, diese Kollegen, mit denen wir es im Innenausschuss immer zu tun haben, kommen am Ende des Monats zu dem Ergebnis, dass in diesem Überwachungsgesamtbudget noch ein bisschen Spielraum ist zu dem, was gerade noch rechtsstaatlich erträglich ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass den konservativen Sicherheitsfanatikern ziemlich schnell noch etwas einfällt, wo man noch ein paar mehr Freiheitseinschränkungen vornehmen kann.
(Frank Herrmann [PIRATEN]: Wir sind zuversichtlich, dass da kein Platz mehr ist! – Weiterer Zuruf von den PIRATEN: Vielleicht kommt auch heraus, dass kein Platz mehr ist!)
Ich will, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Antrag der Piratenfraktion nicht verhohnepiepeln, aber was Sie einfordern, ist, eine politische Selbstverständlichkeit mit akademischen Mitteln anzugehen. Der Gesetzgeber nimmt in jedem einzelnen Gesetzgebungsvorhaben eine Abwägung vor,
(Frank Herrmann [PIRATEN]: Dann sollten wir das öffentlich machen!)
ob ein Mehr an Grundrechtseingriffen gegenüber dem Sicherheitsgewinn verantwortbar und gerechtfertigt ist oder nicht.
Insofern ist es einfach nicht möglich, unabhängig von einem konkreten Gesetzgebungsvorhaben eine Überwachungsgesamtrechnung aufzumachen. Ich habe es auch nie so verstanden, dass das BVG das gefordert hätte. Es ist eine Abwägung dessen, was tatsächlich an Eingriffen in Grundrechte, an Eingriffen in Freiheitsrechte passiert. Das ist mit der Überwachungsgesamtrechnung gemeint. Es ist aber keine einzelne Studie, eine losgelöste Aufsummierung von Überwachungsmaßnahmen gemeint.
(Beifall von den GRÜNEN)
Eine Gesamtrechnung kann immer nur im Kontext eines konkreten Gesetzgebungsvorhabens zu belastbaren Abwägungsergebnissen führen.
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich halte sehr viel von der Evaluierung bestehender Gesetze unter wissenschaftlichen Standards. Das ist vernünftig, wenn es auf ein konkretes Gesetz, auf ein konkretes Vorhaben bezogen ist. Dann macht das auch Sinn, und deswegen machen wir das ja auch. Wir haben eine Evaluierung in das Verfassungsschutzgesetz aufgenommen, wir haben sie in die §§ 15a, 20a und 20b Polizeigesetz aufgenommen.
Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Herr Kollege, Ihre Redezeit.
Matthi Bolte (GRÜNE): In diesen Bereichen hat Rot-Grün auch die Befugnisse jeweils klarer gefasst, beschränkt und transparenter gemacht. Das war richtig so, und deswegen freue ich mich darauf, mit Ihnen im Ausschuss darüber noch einmal zu sprechen. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)