Matthi Bolte-Richter: „Warum vertrauen Sie nicht den Studierenden?“

Entwurf der Landesregeirung zum Hochschulgesetz - zweite Lesung

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gerade schon gehört: Es war ein sehr langer Prozess, etwa anderthalb Jahre lang, der heute seinen Abschluss findet. Es war ein Prozess, bei dem wir durchaus auch interfraktionell zwischenzeitlich immer mal wieder Gespräche hatten, zu dem wir aber doch sagen müssen, dass diejenigen, die am Ende von diesem Gesetz am stärksten betroffen sein werden, nämlich Studierende und Beschäftigte, bei Schwarz-Gelb mit ihrem berechtigten Protest ausschließlich auf taube Ohren gestoßen sind. Denn die Koalition und die Landesregierung waren viel zu sehr in einem ideologischen Korsett, das Mitbestimmung zur Bürokratie erklärt und in dem weniger gesellschaftliche Verantwortung als mehr Freiheit missverstanden wird.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Wir stellen uns klar gegen die Ausweitung der Anwesenheitspflichten. Studierende sollen die Freiheit haben, zu bestimmen, wie sie lernen wollen. Wir haben in dieser ganzen Debatte immer wieder über Vertrauen geredet. Ich frage Sie von den regierungstragenden Fraktionen und Sie, Frau Ministerin: Warum vertrauen Sie nicht den Studierenden? Wir reden hier von erwachsenen Menschen. Sie wollen sie mit diesem Gesetz bevormunden.
Sie ignorieren, dass Studierende auf einen Job angewiesen sind. Wir haben die Zahlen vorliegen. Es sind an einigen Hochschulen über 70 %. Sie sind auf einen Job angewiesen, weil das BAföG immer noch nicht zum Leben und zum Wohnen reicht, oder sie arbeiten in der studentischen oder akademischen Selbstverwaltung mit, oder sie betreuen Kinder oder Angehörige, oder sie haben eine Behinderung oder eine chronische Erkrankung.
Wenn Sie das alles jetzt ignorieren und nicht in Ihre Überlegungen einbeziehen wollen, müssen Sie bei der Überwachung der Anwesenheitspflichten eine riesengroße Bürokratie schaffen. Sie müssen es kompliziert regeln. Das ist doch Bürokratie pur, was Sie da vorhaben.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Es gibt genügend inhaltliche Gründe gegen Anwesenheitspflichten. Sie hätten ja auch andere Möglichkeiten. Die Alternative zur Anwesenheitspflicht liegt doch auf dem Tisch. Wir haben sie in den Debatten auch immer wieder vorgetragen. Sie lautet: gute Lehre. Wir streiten für ein Recht auf gute Lehre für die Studierenden und für beste Bedingungen für die Lehrenden, damit sie diese gute Lehre auch bieten können.
Das geht nur, wenn es übersichtliche Lerngruppen, gute Betreuungsrelationen, gute Infrastruktur und sichere Perspektiven für die Beschäftigten der Hochschulen gibt.
Ich möchte an die Vergangenheit erinnern. Sie von Schwarz-Gelb haben in diesem Bereich das Blaue vom Himmel versprochen, als Sie in der Opposition waren. Sie haben bis heute nicht geliefert. Liefern Sie endlich!
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Die Anwesenheitspflichten waren immer ein zentraler Aspekt in der Debatte, aber es wird munter weiter gegängelt: Vorrundenaus per Online-Self-Assessment, verbindliche Studienverlaufsvereinbarungen –hinsichtlich derer übrigens keine Investitionen in die Beratungsinfrastruktur geplant sind und all das so nebenbei irgendwie gemacht werden soll, was Sie den Hochschulen da an neuen Aufgaben zuschreiben –, weniger Mitbestimmung in den Gremien und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.
So lustlos und ambitionslos diese Landesregierung in der Wissenschaftspolitik sonst auch ist, an dieser Stelle haben Sie entscheidende Rechte gründlich rasiert. Sie haben Anforderungen an Studieren und an das Arbeiten im Wissenschaftsbetrieb im 21. Jahrhundert gründlich ignoriert. An diesen Stellen ist dieses Gesetz einfach nur von gestern.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Mit der rot-grünen Zivilklausel haben wir die Wissenschaftsautonomie geachtet und gestärkt, aber zugleich die richtigen und notwendigen Diskussionen an den Hochschulen ans Laufen gebracht und an den richtigen Stellen eine Diskussion darüber erwirkt, ob man bestimmte Forschungsprojekte machen oder sie lassen sollte.
Dieses Instrument funktioniert in den Hochschulen; es funktioniert gemeinschaftlich. Wenn man nicht komplett ideologisch auf diese Frage schaut, wird niemand verstehen, warum Sie das abschaffen.
(Beifall von Verena Schäffer [GRÜNE])
Dietmar Bell und ich haben heute Morgen mehr als 11.000 Unterschriften von Menschen entgegengenommen, die sich für Frieden, Nachhaltigkeit und Demokratie einsetzen. Diese werde ich nicht jetzt im Plenum, sondern an geeigneter Stelle übergeben, wenn Sie, Frau Ministerin, sie entgegennehmen möchten.
Ich bitte Sie, dass Sie das Anliegen und die Sorgen dieser Menschen ernst nehmen und dafür sorgen, dass öffentliche Forschung dem Frieden dient.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Meine Damen und Herren, das ist natürlich eines der ganz großen Gesetzgebungsverfahren in der Wissenschaftspolitik in dieser Legislaturperiode. Eine solche Debatte muss man dann natürlich auch in die Fragen unserer Zeit einbetten.
Unsere Gesellschaft steht vor enormen Herausforderungen: die Klimakrise, die Digitalisierung, die demografische Entwicklung. Dies gestalten wir nicht mit standardisierten Scheinmaschinen, mit Wissensmaschinen.
Das schaffen wir nur, wenn wir Talente fördern, die auch mal neue Wege gehen wollen, auch mal scheitern dürfen und daraus lernen. Im 21. Jahrhundert brauchen wir Querdenkerinnen und Querdenker sowie Hochschulen, die fördern, dass quer gedacht wird.
Diesen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts genügt der schwarz-gelbe Gesetzentwurf nicht. Es ist ambitionsloses Verwalten, es ist schlicht vorgestern.
Die ideologiegetriebene Retropolitik der Landesregierung schadet den Studierenden, den Beschäftigten und dem Wissenschaftsstandort Nordrhein-Westfalen. Deshalb lehnen wir dieses Gesetz aus voller Überzeugung ab.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Der zweite Redebeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt von
Matthi Bolte-Richter (GRÜNE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Frau Ministerin, Sie haben eben richtigerweise angesprochen, dass wir eine immer vielfältigere Studierendenschaft haben.
Aber die Antwort, die Sie auf die damit verbundenen Herausforderungen geben, nämlich sie stärkerem Zwang auszusetzen, sie stärker zu bevormunden, ist genau die falsche Antwort. Das ist schlecht für die Studierenden, und es benachteiligt genau diejenigen, denen wir eigentlich Aufstieg ermöglichen wollen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Sie schwächen genau die Kinder, die aus Nichtakademikerhaushalten kommen, wenn Sie ihnen die zusätzlichen Verpflichtungen durch Anwesenheitspflichten, durch Studienverlaufsvereinbarungen etc. auferlegen.
Das ist der Kernvorwurf, den wir Ihnen an dieser Stelle machen, dass Sie eben nicht auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mit einer bunten Studierendenschaft reagieren.
Sie haben eben auch das Stichwort „Anwesenheitspflichten“ – genau wie Kollege Dr. Nacke aufgegriffen. Wir haben Ihnen da nichts unterstellt, was nicht in Ihrem Gesetzentwurf steht: Selbstverständlich weiten Sie die Anwesenheitspflichten mit diesem Gesetz aus.
Wir haben nämlich im Vorfeld mit einer Großen Anfrage nachgefragt, wie sich denn Anwesenheitspflichten entwickeln würden. Wir haben natürlich aus den Hochschulen die Rückmeldungen bekommen, dass je nach Studiengang bis zu 56 % der Veranstaltungen in Zukunft mit Anwesenheitspflichten belegt sein werden.
(Zurufe von der CDU)
–  Lesen Sie doch einfach die Antworten Ihres Ministeriums.
Das ist eine deutliche Ausweitung gegenüber dem Status quo. Das ist natürlich eine Gängelung der Studierenden.
(Beifall von den GRÜNEN)
Zum Abschluss: Wir können über all diese Themen streiten; dafür sind wir hier. Dafür wird in diesem Hohen Haus debattiert und gestritten.
Aber was mich an diesem Gesetz am meisten stört – das ist genau das, was wir eben in diesen Debatten wieder erlebt haben sowohl bei Ihnen, Frau Ministerin, als auch bei den Kollegen der regierungstragenden Fraktionen –, ist dieses ewige „Naja, wir haben mit all dem nichts zu tun; die Hochschulen machen das schon irgendwie“.
Sie sind gewählt, um in diesem Land zu regieren. Dafür haben Sie eine Mehrheit, und die haben Sie auf Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall von den GRÜNEN – Zurufe von der CDU und der FDP: Oh!)
Nutzen Sie die doch einfach mal dafür, in diesem Land etwas zu gestalten. Ducken Sie sich nicht weg.
(Unruhe)
Stehlen Sie sich nicht aus der Verantwortung. Hier gilt doch nicht: Alles kann, nichts muss. Sie haben Verantwortung für dieses Land!
(Anhaltende Unruhe)
Werden Sie dieser Verantwortung endlich gerecht!
(Anhaltender Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Zurufe von der CDU)