Matthi Bolte: „Ich bin fassungslos über so viel Ignoranz gegenüber einer epochalen Veränderung und Verzweiflung über das eklatante Versagen dieser Bundesregierung, über die verheerende Bilanz in Netzpolitik- und Datenschutzfragen.“

Antrag der Piraten zum Schutz vor Überwachungsprogrammen

Matthi Bolte (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, am heutigen Tag wird der Begriff „Neuland“ noch häufiger fallen natürlich vor dem Hintergrund, dass gestern, dreiundzwanzig Jahre nach dem Freischalten des öffentlichen Zugangs zum World Wide Web, die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland neben dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika vor der versammelten Weltpresse sitzt und erklärt, dass sie jetzt das Internet entdeckt und gesagt hat: Das ist Neuland.
(Zurufe von der CDU)
Das haben viele, wie gerade auch mein Vorredner, Herr Hegemann, mit einem gewissen Amüsement aufgefasst. Bei mir ist es eher Fassungslosigkeit und Verzweiflung. Es ist Fassungslosigkeit über so viel Ignoranz gegenüber einer epochalen Veränderung und Verzweiflung über das eklatante Versagen dieser Bundesregierung, über die verheerende Bilanz in Netzpolitik- und Datenschutzfragen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Alle großen Aufgaben hat die schwarz-gelbe Koalition vergeigt. Netzneutralität, zukunftsfähige Infrastruktur, ein Urheberrecht für dieses Jahrhundert genauso wie den Schutz unserer Privatsphäre. Thomas de Maizières Rote-Linien-Gesetz hat sein Nachfolger erst auf Eis gelegt. Die EU-Datenschutzreform versucht die Bundesregierung, wo immer es geht, auszubremsen. Die Stiftung Datenschutz findet ohne Datenschützer statt. Hinzu kommt, dass die Überwachungsphantasien der CDU praktisch grenzenlos sind. Das zeigte uns gerade gestern erst hier im Haus unser Kollege Biesenbach, als er in der Debatte ums Verfassungsschutzgesetz groß beweinte, dass es im neuen Gesetz keine Onlinedurchsuchungen gibt.
Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmitz von der CDU-Fraktion?
Matthi Bolte (GRÜNE): Ja, gern.
Vizepräsident Oliver Keymis: Bitte schön.
Hendrik Schmitz (CDU): Vielen Dank. – Herr Kollege, Sie haben eben das Thema „Neuland“ angesprochen. Das ist auch mehrfach in den Reden der Piraten vorgekommen.
Sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass es auch ein Stück weit Arroganz gegenüber Menschen in Deutschland ist, zu behaupten, dass wir in der Frage des Internets jeden Tag Neuland beträten? Das hat die Bundeskanzlerin wohl damit auch gemeint. Finden Sie es nicht anmaßend, dass das jetzt genutzt wird, um einen kleinen Effekt in der Frage zu erhaschen, wer die Deutungshoheit im Internet und im WWW hat?
Matthi Bolte (GRÜNE): Herr Kollege, ich habe seit gestern Mittag nicht mit der Bundeskanzlerin darüber sprechen können, wie sie ihre Äußerung gemeint hat. Das ist aus Ihrer Sicht jetzt eine sehr wohlmeinende Formulierung gewesen. Auf der anderen Seite muss man sehen, was ich gerade inhaltlich ausgeführt habe, wie nämlich diese Bundesregierung – an der Spitze steht nun einmal Kanzlerin Merkel – netzpolitisch agiert hat. Ich habe eben sehr eindeutig skizziert, wo das große Versagen dieser Bundesregierung liegt.
Man sollte mir nicht deshalb Arroganz unterstellen, weil wir Grüne und andere Fraktionen bessere Konzepte haben, weil wir beispielsweise für die gesetzliche Absicherung der Netzneutralität sind und nicht für diese Larifari-Lösung, die Sie gemacht haben, weil wir dafür sind, eine zukunftsfähige Infrastruktur zu schaffen, weil wir dafür sind, ein zukunftsfähiges Urheberrecht zu haben, weil wir dafür sind, dass es zukunftsfähigen Datenschutz gibt, der diesem Jahrhundert angemessen ist, das ist falsch.
Das ist keine Arroganz, sondern das ist einfach die Einsicht darin, dass das Internet eine Jahrhundertinnovation ist, mit der wir umgehen müssen, und dass der digitale Wandel ein Wandel unserer Gesellschaft ist, den wir gestalten müssen. Das hat nichts mit Arroganz zu tun, sondern das hat vor allem etwas damit zu tun, dass Schwarz-Gelb das vier ganze Jahre verpennt hat. Das beenden wir am 22.09.
(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und den PIRATEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Skandal um das PRISM-Programm wurde einmal mehr eine zentrale Frage des digitalen Zeitalters aufs politische Parkett gebracht. Wie gestalten wir Freiheit und Sicherheit im digitalen Zeitalter? Die Antwort im Rechtsstaat darf darauf nicht lauten – ich bin froh, das von meinen Vorrednern in mehr oder weniger intensiver Schärfe gehört zu haben –: Der Zweck heiligt die Mittel. Das darf nicht die Antwort des Rechtsstaates sein. Die Antwort des Rechtsstaates darf auch nicht Misstrauen sein. Die Antwort darf auch nicht lauten: Generalverdacht, ansatzlose Überwachung. Das große Versprechen, das Selbstverständnis des freien digitalen Rechtsstaates ist vielmehr – das müssen wir bei allen Fragen, und zwar auch bei denen, die sich neu stellen –, darauf zu achten, dass wir diese Freiheit, diese Rechtsstaatlichkeit und diese Grundwerte unserer Demokratie gerade im digitalen Zeitalter erhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss richtigerweise sagen, dass wir nicht seriös abschätzen können, was alles in diesem PRISM-Programm enthalten ist. Wir haben keine Gewissheit über die konkreten Rechtsgrundlagen, wir kennen nicht die konkreten Inhalte, und wir wissen nicht, worin die konkreten Maßnahmen bestehen. Aber die Vorwürfe, die im Raum stehen und über die wir heute debattieren, sind doch immens.
Die Vorwürfe von Edward Snowden zielen auf schwerwiegende Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung. Angeblich wurde eben tatsächlich die vollständige elektronische Kommunikation überwacht. Dieses Ausmaß haben viele befürchtet; es galt vielen aber auch lange als Verschwörungstheorie. Aber langsam setzt sich die Gewissheit durch, dass es sich dabei eben um ein reales Szenarium, um eine reale Gefahr für unsere Freiheit und möglicherweise auch um einen Anschlag auf unsere verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsrechte handeln könnte.
Es ist unklar, welche Internetdienste überwacht wurden, welche Mitwirkungspflichten vorliegen, wie das amerikanische Recht die Möglichkeiten definiert, wie dem nachgekommen wird. Ich habe bisher nicht wahrgenommen, dass die US-Regierung ein ernstes Interesse daran gezeigt hätte, das konkret aufzuklären und zu konkreter Aufklärung beizutragen.
Ich habe nur Zahlen von einzelnen Anbietern gehört, die ich durchaus schockierend fand. Erst recht schockierend fand ich auch Nachrichten wie die, dass beispielsweise Microsoft über Sicherheitslücken in seinen Produkten erst den amerikanischen Geheimdienst informiert hat und deutlich später erst seine Nutzerinnen und Nutzer. Das sind einfach Kulturfragen, die wir auch klären müssen.
Die US-Regierung hat bisher offensichtlich kein Interesse an Aufklärung. Deshalb ist es Sache auch der Bundesregierung, dafür zur sorgen, dass wir diese Vorgänge aufgeklärt bekommen.
Das ist gerade vor dem Hintergrund notwendig, dass Deutschland nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen der Staat in Europa ist, in dem am meisten Daten im Rahmen von PRISM abgefangen wurden. Dazu habe ich deutliche Worte der Kanzlerin vermisst. Vielleicht hat sie sie nichtöffentlich gesprochen. Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht. Ich habe diese Worte jedenfalls vermisst, auch in ihren Statements in der Öffentlichkeit; denn die Eingriffe in das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung sind massiv und zum Teil auch unverhältnismäßig.
Deshalb muss die Bundesregierung jetzt ehrlich aufklären. Der augenzwinkernde Verweis auf das „Neuland“ Internet im Stil des „Neuland“-Statements reicht einfach nicht. Wenn bei der Entdeckung eines Neulands etwas schiefgeht, wenn Grundrechte unverhältnismäßig eingeschränkt werden, wenn aus Big Data Big Brother wird, meint Frau Merkel: Tja, das ist dann halt ein Kollateralschaden. – Diese Logik dürfen wir ihr nicht durchgehen lassen. So viel Ignoranz gegenüber der realen Gefährdung von Freiheitsrechten hat es selten gegeben. Das dürfen wir der Kanzlerin in der Tat nicht durchgehen lassen.
(Beifall von den GRÜNEN und den PIRATEN)
Kollege Hegemann hat gerade einen Widerspruch aufzuzeigen versucht, der so nicht existiert. Es gibt ein legitimes Sicherheitsinteresse der Bürgerinnen und Bürger, gerade auch unter den Bedingungen der Digitalisierung. Diesen Diskurs müssen wir führen. Wir müssen ihn nach vorne führen. Der Umgang mit PRISM wird ein entscheidender Beitrag dazu sein, wie wir den Datenschutz im 21. Jahrhundert im Sinne von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufstellen.
Gestatten Sie mir, als Schlussbemerkung einen Kommentar aus der Onlineausgabe der „Zeit“ von gestern zu zitieren. Darin schrieb der Kommentator:
„Angst ist ein schlechter Begleiter bei der Erkundung von Neuland. Es braucht mutige Pioniere, zumindest ein paar.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschheit hat bei der Erkundung von Neuland auch nicht immer nur gute Erfahrungen gemacht. Bei der sogenannten Entdeckung Amerikas wurde den Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern unfassbares Leid angetan. Die ersten Menschen, die zum Mond geflogen sind, haben ein paar schöne Steine mitgenommen und viel Müll dagelassen. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Geschichte an dieser Stelle bei der Entdeckung der digitalen Welt nicht wiederholt. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und den PIRATEN)


2. Runde:

Matthi Bolte (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Dr. Orth hat eben mit Vergangenheitsbewältigung angefangen. Nach Ihrem Statement muss es unter Innenminister Wolf wirklich schlimm gewesen sein. Sie haben diese Zeit, diese fünf Jahre, in Ihrem Statement gerade offensichtlich vergessen; denn gucken Sie sich an, was Sie damals für ein Verfassungsschutzgesetz gemacht haben: Das Verfahren in Karlsruhe haben Sie mit Pauken und Trompeten und völlig zu Recht verloren.
(Dr. Robert Orth [FDP]: Drei Jahre haben Sie damit weitergearbeitet!)
Und was sagen Sie jetzt zu unserem Verfassungsschutzgesetz? Wir haben angekündigt: Wir wollen das Verfassungsschutzgesetz so formulieren, dass Transparenz herrscht und klar ist, was der Verfassungsschutz gegenüber der Bevölkerung darf und was er nicht darf. Da gehen Sie jetzt hin und machen uns hier den großen Bürgerrechtler, die große Welle. Das war alles andere als glaubwürdig.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Herr Kollege Bolte, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Orth zulassen?
Matthi Bolte (GRÜNE): Gerne. Ja.
Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Wunderbar.
Matthi Bolte (GRÜNE): Ich weiß zwar nicht, wie ich dann die anderen Argumente in vier Sekunden Redezeit unterbringen soll, aber bitte, Herr Kollege.
(Zuruf von Christof Rasche [FDP])
– Ach doch, Herr Kollege.
Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Jetzt hat zunächst mit Ihrer freundlichen Zustimmung Herr Kollege Dr. Orth das Wort.
Dr. Robert Orth (FDP): Lieber Herr Kollege Bolte, dann erklären Sie mir doch mal, warum Sie gegen das alte Verfassungsschutzgesetz und gegen das alte Polizeigesetz zuerst geklagt haben und dann, kaum dass Sie vor drei Jahren in der Regierung waren, Ihre Klagen zurückgenommen und drei Jahre mit der Situation weitergelebt haben.
(Christof Rasche [FDP]: Das gibt es ja gar nicht! Hört, hört!)
Matthi Bolte (GRÜNE): Herr Kollege, Sie haben das in den Beratungen von der ersten Lesung hier im Plenum durch die kompletten Ausschussberatungen bis gestern jedes Mal wieder gebracht. Sie haben unsere Argumente offenkundig in keiner Weise berücksichtigt. Das jedenfalls war meine Erfahrung in all den Debatten.
Wenn Sie dann auch noch fragen, warum der Gesetzgebungsprozess möglicherweise andauert
(Dr. Robert Orth [FDP]: Erst klagen Sie, und hinterher arbeiten Sie drei Jahre damit! Das ist Stuss!)
und warum wir diesen Gesetzgebungsprozess so durchgeführt haben, wie wir ihn durchgeführt haben, muss ich erwidern: Auch das haben wir Ihnen gestern erklärt: Der Minister hat einen Beauftragten eingesetzt, um aufzuarbeiten, was es möglicherweise in den vergangenen, ich glaube, etwa zehn Jahren innerhalb der Sicherheitsarchitektur in Nordrhein-Westfalen an Fehlentwicklungen gegeben hat und was man daraus lernen kann. Er hat diese Erkenntnisse aus der Vergangenheit berücksichtigt und mit in den Beratungsprozess eingespeist. Es folgte ein parlamentarischer Beratungsprozess, an dessen Ende wir einige Unklarheiten, die es gab, beseitigt und geklärt haben.
Daher verstehe ich wirklich nicht, warum Sie sich so aufregen. Sie haben tatsächlich wesentliche Teile unseres Gesetzentwurfs einfach nicht verstanden. Sie haben zum Beispiel nicht verstanden, was die Transparenzregeln mit sich bringen, welche Fortschritte die Transparenz in diesem neuen Verfassungsschutzgesetz mit sich bringt, was da alles neu geregelt ist. Da kann ich dann einfach nur sagen: Sorry, da sind Sie Ihrem Auftrag als Opposition, eine Alternative zu formulieren, offensichtlich nicht nachgekommen, da haben Sie in Ihrer Rolle einfach versagt.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Jetzt kann ich leider nichts mehr sagen zur Medienkompetenz, zur Datenschutzkompetenz, zu den Vorschlägen, die der Minister gerade angerissen hat, um den Datenschutz und die Informationssicherheit weiterzuentwickeln. Ich kann auch nichts mehr dazu sagen, dass wir ein ernsthaftes Interesse an einer Diskussion über Schutz und Sicherheit nach vorne haben. – Dennoch bedanke ich mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)