Martina Maaßen: „Aber Rechte und Pflichten unterhalb eines Existenzminimums darf es eigentlich nicht geben.“

Antrag der Piraten zum ALG II-Bezug

Martina Maaßen (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der „Lindenstraße“ macht uns aktuell Klausi Beimer deutlich, was es heißt, als Arbeitslosengeld-II-Bezieher von Transferleistungen abhängig zu sein.
(Zuruf)
– Ich bin ein Fan der „Lindenstraße“. Also kann ich das hier auch zitieren.
(Beifall von den GRÜNEN)
Sein Beispiel macht deutlich, was es heißt, fehlende Augenhöhe im Beratungsprozess zu erfahren und von Sanktionen betroffen zu sein.
Klaus Beimer hat jedoch ein Hilfesystem im Rücken: Familie und Freunde und nicht zuletzt seine Mutter Helga. Dies haben die meisten nicht.
Von Sanktionen Betroffene müssen unter dem Existenzminimum leben, das das Bundesverfassungsgericht jedem Menschen ausdrücklich zugesprochen hat. Fragt sich eigentlich niemand im Bund, ob den Hilfebedürftigen das Existenzminimum durch Sanktionen überhaupt ganz oder teilweise entzogen werden darf? Fragt sich eigentlich niemand, was mit diesen Menschen passiert? – Ich kann es Ihnen sagen: Im wahrsten Sinne des Wortes wird deren Existenz minimiert.
Da, Herr Kerkhoff, unterscheiden wir uns ganz deutlich; denn Sie sprechen von Rechten und Pflichten. Grundsätzlich haben Sie sicherlich recht. Aber Rechte und Pflichten unterhalb eines Existenzminimums kann man nur sehr kritisch sehen. Das darf es eigentlich nicht geben.
(Beifall von den GRÜNEN)
Sanktionen sind dem Rechtsstaat nicht fremd. Manchmal sind sie auch notwendig. Ein Mensch darf durch Sanktionen jedoch nicht in seiner Existenz gefährdet werden.
Die Arbeitsmarktpolitik des Bundes schränkt Förderung ein und weitet Sanktionen aus. Die Zahl der neu ausgesprochenen Sanktionen stieg seit 2007 von rund 785.000 auf über 1 Million in 2012.
70 % werden wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen. Bereits vor drei Jahren haben wir diese Problematik hier im Plenum diskutiert; das wurde eben schon angesprochen. Wir haben die Landesregierung beauftragt, auf ein Sanktionsmoratorium hinzuwirken. Mit einigen Initiativen auf Bundesebene wurde dieser Auftrag auch wahrgenommen.
Ihr Antrag, liebe Piraten, ist also nichts Neues. Dennoch freut es uns, dass Sie ebenfalls die Sanktionen kritisieren.
Der vollständigen Aussetzung des § 39 SGB II können wir jedoch nicht beitreten. Gleichwohl bedarf es hier einer Änderung. Durch den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widersprüchen und Klagen wird Bezieherinnen und Beziehern von existenzsichernden Leistungen nur ein geringer Rechtsstatus zugeschrieben. De facto heißt das: ALG-II-Empfänger bekommen das Existenzminimum bzw. das, was dafür gehalten wird. Dies kann dann aber gekürzt und sanktioniert werden. Und wenn man sich wehrt, widerspricht oder klagt, bleibt das Existenzminimum trotzdem auf den Konten des Jobcenters.
Nicht akzeptabel sind die verschärften Sanktionen für Menschen unter 25 mit einer Kürzung von bis zu 100 %. Dies gehört – das unterstützen wir auch – abgeschafft. Dieses Vorgehen, meine Damen und Herren, steht in krassem Widerspruch zu den Einschätzungen der Kinder- und Jugendhilfe. Gerade bei den Heranwachsenden oder jungen Erwachsenen wird von einer Entwicklungsphase ausgegangen, die eine besondere Unterstützung und Förderung begründet.
Bei der grünen Forderung nach einem Sanktionsmoratorium geht es zunächst darum, Sanktionen auszusetzen, die derzeitige Praxis in den Jobcentern zu überprüfen und den gegenwärtigen Sanktionsparagrafen grundlegend zu überdenken. Im Hartz-IV-System rücken leider allzu oft nur die persönlichen Schwächen der Menschen in den Vordergrund, ihre Defizite in der Qualifizierung, ihre Defizite in der Lebensführung. Mit den Sanktionen wird noch eines draufgesetzt: Es wird demotiviert und gedemütigt. Sanktionen sind unnötig und kontraproduktiv.
Aus grüner Sicht ist hier ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel nötig. Wir müssen positiv motivieren, positiv verstärken, statt negativ zu sanktionieren. Wir brauchen ein Wunsch- und Wahlrecht der Arbeitssuchenden in den Jobcentern, ein Verbandsklagerecht sowie Ombudsstellen, um Konflikte frühzeitig auf Augenhöhe zu lösen.
Wir brauchen eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit fairen Regeln auf Augenhöhe. Bis dahin gehört das derzeitige Sanktionssystem ausgesetzt. – Vielen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN und den PIRATEN)

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