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Manuela Grochowiak-Schmieding (GRÜNE: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selbstbestimmung, gleichberechtigte Teilhabe, persönliche Entfaltung und vieles andere sind Ansprüche, die das Grundgesetz den Menschen in Deutschland zusichert.
Indes: Die Lebensrealität sieht natürlich anders aus; wir wissen es alle. Es gibt verschiedene Gründe, die dazu führen, warum Menschen am Rande der Gesellschaft stehen. Ein Grund kann sogar die bestehende Gesetzgebung sein. Damit bin ich eigentlich schon beim Thema, nämlich bei der jetzigen gesetzlichen Regelung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung.
Ich möchte dies anhand einiger Beispiele erläutern. Dabei möchte ich mit einem Zitat vom Aktivisten für Inklusion und Barrierefreiheit Raul Krauthausen beginnen – ich zitiere –:
„Ich bin machtlos. Ich werde mein Leben lang diese Behinderung haben. Sie ist kein vorübergehender Zustand wie manche Arbeitslosigkeit. Meine Altersarmut ist vorprogrammiert, wenn sich an der Gesetzeslage in den nächsten Jahren nichts ändert.“
Der das sagt, ist ein Mensch, der berufstätig ist und sein Einkommen verdient. Zur Bewältigung seines Alltags ist er auf persönliche Assistenz angewiesen. Damit fällt er unter die Regelungen des SGB IX. Dort ist geregelt, dass Menschen wie er nicht mehr als den doppelten Hartz-IV-Satz verdienen dürfen. Dort ist auch geregelt, dass er nicht mehr als 2.600 € ansparen darf – kein Bausparvertrag, keine Lebensversicherung, keine Erbschaft. Sogar seine Beziehungspartnerin oder sein Beziehungspartner, sollte er einmal heiraten, würde mit ihrem oder seinem Einkommen herangezogen werden. Das ist falsch! Diese Diskriminierung muss aufhören! Das Heranziehen von Einkommen und Vermögen zur Deckung behinderungsbedingter Unterstützungsleistungen muss abgeschafft werden.
(Beifall von den GRÜNEN)
Denn alle Menschen sollten von ihrem Einkommen leben können. Der behinderungsbedingte Nachteilsausgleich ist eine gesellschaftliche Gemeinschaftsaufgabe. Es kann doch nicht sein, dass diese gesellschaftliche Aufgabe vom Betroffenen selbst zu bezahlen ist und er dabei unter Umständen verarmt.
Ein anderes Beispiel: Für Menschen, die in einem Pflegeheim leben, zahlt die Pflegeversicherung je nach Pflegestufe 1.064 € bis 1.995 € pro Monat. Für Menschen mit Behinderung, die in einer stationären Einrichtung leben und pflegebedürftig werden, zahlt die Pflegekasse maximal 266 € im Monat. Das ist falsch! Diese Ungleichbehandlung von Menschen in der Pflegeversicherung muss abgeschafft werden; hierbei soll das Prinzip vorrangiger Leistungsträger greifen.
Nächstes Beispiel: Die Eltern eines Kindes mit Autismus beantragen bei der Stadt, dem zuständigen Träger, die Kostenübernahme für eine Integrationshelferin als Begleitung in der Schule. Die Stadt lehnt den Antrag ab. Bei den nun folgenden Gerichtsverfahren wird die Stadt auf die eindeutige Gesetzeslage und ihre Verpflichtung hingewiesen. Anstatt aber nun zügig für die Unterstützung des Kindes zu sorgen, geht die Stadt in Revision. Die Familie und vor allem auch das betroffene Kind bleiben damit auf der Strecke.
Diese Situation des täglichen Kampfes um die eigenen Rechte ist vielen Betroffenen bekannt. Ob es die Wahl des Wohnortes ist, die Bewilligung von Reha-Maßnahmen oder die Unterstützung bei der Berufsausbildung – oftmals werden die Ratsuchenden von einem Leistungsträger zum anderen geschickt, anders als es das Gesetz vorsieht. Das ist falsch! Deshalb befürworten wir zur Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in unserem Land die Orientierung am ICF-Standard, verbindliche einheitliche Verfahren zur personenzentrierten Teilhabeplanung und Leistungserbringung. Der Kostenvorbehalt im SGB XII muss weg. Menschen mit Behinderung sollen Zugang zu unabhängiger Beratung möglichst im Peer Counseling, also Betroffene beraten Betroffene, erhalten. Die Länder brauchen die Möglichkeit, die Einrichtung und Ausgestaltung von Arbeitsgemeinschaften, die das SGB IX bereits vorsieht, verbindlicher zu gestalten.
Mit strukturellen Veränderungen bei der Eingliederungshilfe können wir die Lebensbedingungen der Menschen mit Behinderung verbessern, aber auch – das ist nicht ganz unwesentlich – der sich aufwärts drehenden Kostenspirale begegnen. Als Beleg hierfür möchte ich Ihr Augenmerk, liebe Kolleginnen und Kollegen, kurz auf die Situation bei den Wohnangeboten von Menschen mit Behinderung lenken. Denn mit dem konsequenten Ausbau ambulanter Wohnsettings sind die Fallkosten deutlich geringer als bei geringerer Ambulantisierungsquote. Dies macht das Benchmark der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe für das Jahr 2012 sehr deutlich. So liegen die Fallkosten in NRW im Vergleich zu Bayern zum Beispiel um bis zu 8.000 € pro Fall niedriger.
Unser Ziel ist also die Umsetzung der Grundrechte und natürlich der Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention, die ja bereits vor sechs Jahren von Deutschland ratifiziert wurde. Hierzu braucht es die strukturelle Veränderung der geltenden Gesetzgebung. Dafür braucht es aber auch die finanzielle Beteiligung des Bundes an den Kosten.
Die Umwandlung unserer Gesellschaft in eine inklusive Gesellschaft und die Gestaltung des Bundesteilhabegesetzes sind Teile dieses Prozesses, sind Querschnittsaufgaben, die von allen Ebenen getragen werden müssen. Es ist nicht weiter hinnehmbar, dass der Bund den Kommunen und den Ländern die Finanzierung alleine überlässt.
(Beifall von den GRÜNEN)
Lassen Sie mich noch eines sagen: Ich begrüße durchaus die neueste finanzielle Unterstützung der Kommunen durch den Bund bei den infrastrukturellen Maßnahmen wie zum Beispiel Straßenbau oder Breitbandausbau. Wir Grüne erwarten jedoch, dass die Bundesregierung diese Unterstützung oder Förderung nicht zum Anlass nimmt, sich nun aus der Notwendigkeit der Beteiligung an den Kosten zur Eingliederungshilfe zu verabschieden. Im Moment sieht es leider ganz danach aus, dass sich die Bundesregierung nicht an die gegebenen Versprechen halten will.
Wir in der rot-grünen Koalition in NRW sind uns einig: Wir brauchen ein Bundesteilhabegesetz, das die Strukturen der Eingliederungshilfe im Sinne der betroffenen Menschen regelt und in dem sich der Bund zur finanziellen Beteiligung an den Kosten verpflichtet. Diese beiden Prozesse gehören zusammen und dürfen nicht entkoppelt werden.
Unser Antrag beschreibt die notwendigen Maßnahmen. Wir fordern die Landesregierung auf, sich mit den verschiedenen zuständigen Gremien auf Bundesebene mit allem Nachdruck für ein entsprechendes Bundesteilhabegesetz einzusetzen.
Meine Damen und Herren, Nordrhein-Westfalen bezieht klar Stellung für die Belange von Menschen mit Behinderung. Es wäre gut, wenn wir das mit breiter Mehrheit täten. In diesem Sinne bitte ich Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, unseren Antrag mit Wohlwollen zu begleiten. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall von den GRÜNEN)