Jule Wenzel: „Das Bürgergeld kommt zur richtigen Zeit“

Zum Antrag der SPD zum Bürgergeld

Portrait Jule Wenzel (c) M Laghanke

Jule Wenzel (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Das Bürgergeld ist neben der Wohngeldreform und der Kindergrundsicherung eine der größten sozialpolitischen Errungenschaften, die in den letzten Jahrzehnten auf den Weg gebracht wurden. Und es kommt zur richtigen Zeit.

Während gestern Abend auf der Ministerpräsidentenkonferenz weiter über wichtige und richtige milliardenschwere Entlastungspakete debattiert wurde, dürfen wir die Menschen, die in unserer Gesellschaft am härtesten mit der aktuellen Krisenlage konfrontiert sind, nicht aus dem Blick verlieren.

Für viele Menschen im Leistungsbezug ist der Gang in den Supermarkt in diesen Tagen nämlich ein sehr schwerer. Von Regal zu Regal sind sie mit schweren Entscheidungen und Verzicht konfrontiert, um es einigermaßen über die Runden zu schaffen. Vielen gelingt das in diesen Zeiten nicht mehr bis zum Monatsende.

Gerade jetzt, wenn die Inflation und die Lebensmittelpreise steigen, ist eine Erhöhung um 53 Euro auf einen Regelsatz von 502 Euro ein dringend notwendiger Schritt in die richtige Richtung. Lassen Sie es mich aber gleich sagen: Das kann nicht das Ende der Regelsatzerhöhungen sein, denn der Regelsatz muss sich den aktuellen Gegebenheiten anpassen und ein würdevolles Leben ermöglichen.

(Beifall von den GRÜNEN und Klaus Hansen [CDU])

Das Bürgergeld ist auch arbeitsmarktpolitisch eine Errungenschaft, denn es stellt in einem Paradigmenwechsel die richtigen Weichen, um dem Fachkräftemangel in unserem Land zu begegnen.

Jetzt, vor der Reform, gilt der sogenannte Vermittlungsvorrang. Das heißt, dass Arbeitssuchende vorrangig in die Stellen vermittelt werden, die auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind, auch wenn dies nur Aushilfstätigkeiten sind. Möglichkeiten, sich beruflich zu qualifizieren, werden damit erschwert, und wichtige Potenziale bleiben ungenutzt.

In einem Arbeits- und Fachkräftemangel wie dem, in dem wir uns gerade befinden, kann man aber nicht einfach offene Stellen und arbeitsuchende Menschen miteinander aufrechnen. Es ist vielmehr so, dass Qualifikationen der Arbeitssuchenden und Anforderungen der Arbeitgeber*innen auf beiden Seiten nicht zusammenpassen. Wir sprechen dabei von einem Mismatch.

Mit einem Weiterbildungsgeld von 150 Euro im Monat und einem Bürgergeldbonus von 75 Euro im Monat werden die richtigen Ansätze gewählt, um eine Ausbildung abzuschließen oder eine Weiterbildungsmaßnahme aufzunehmen.

Wir können es uns nicht leisten, das Talent auf der Straße liegen zu lassen.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU und der SPD)

Deshalb ist der Fokus auf Ausbildung, Weiterbildung und die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs jetzt das richtige Mittel.

Ich freue mich, dass mit der Reform auch ein neues Miteinander in den Jobcentern Einzug hält.

(Sarah Philipp [SPD]: Wann kommt das denn?)

Für mich stellt das einen echten Paradigmenwechsel im Verhältnis zwischen Vermittler*innen und Arbeitssuchenden dar. Künftig sollen nämlich Kooperationsvereinbarungen mit dem Jobcenter aufgestellt werden, die den individuellen Weg zurück ins Arbeitsleben planen. Der Wegfall der Rechtsfolgen und die Vertrauenszeit, in der mit Abschluss der Kooperationsvereinbarung in den ersten sechs Monaten keine Sanktionen ausgesprochen werden, sind ein wichtiger Schritt zu einer verlässlichen, vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Arbeitsvermittelnden und Arbeitsuchenden.

Kurz möchte ich auch noch auf die Debatte über Sanktionen eingehen. Dass Sanktionen ihr Ziel, arbeitslose Menschen zum Arbeiten zu motivieren, verfehlen, belegt eine aktuelle Langzeitstudie des INES Berlin. Vielmehr führen Sanktionen dazu, dass Betroffene eingeschüchtert und stigmatisiert werden. Im Zweifel wird damit sogar eine Jobaufnahme erschwert. Das kann nicht unser Ziel sein!

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD – Zuruf von Dr. Dennis Maelzer [SPD])

Wer seinen oder ihren Job verliert, ist mit einem Schlag mit Abstiegsängsten konfrontiert. Dem steuert die vorgeschlagene Karenzzeit entgegen. In den ersten zwei Jahren des Leistungsbezugs ist der eigene Wohnraum nämlich gesichert. Das Schonvermögen, das in dieser Zeit 60.000 Euro pro Bezieherin und 30.000 Euro für jede weitere Person in der Bedarfsgemeinschaft beträgt, ist ebenfalls geschützt.

Ich finde, dass das die richtigen Maßnahmen sind, denn es muss uns doch darum gehen, dass die Menschen in unserem Land sich darauf konzentrieren können, schnell wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen, und sich nicht Sorgen darüber machen müssen, ihr gewohntes Umfeld verlassen oder ihre Altersvorsorge auflösen zu müssen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Lisa-Kristin Kapteinat [SPD]: Richtig! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Nicht zuletzt können wir damit auch einen guten Beitrag zum Erhalt des Wohlstands in unserem Land leisten,

(Zuruf von Lisa-Kristin Kapteinat [SPD])

der in diesen Zeiten mehr denn je in Gefahr ist.

(Zuruf von der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Jahr 2022 wachsen laut einer weiteren Erhebung der Bundesagentur für Arbeit 17,9 % der Kinder in Nordrhein-Westfalen in einer Bedarfsgemeinschaft mit SGB-II-Bezug auf. Dass man als Kind, das in einer Familie mit Leistungsbezug aufwächst, viele Entbehrungen auf sich nehmen muss, ist ein unverrückbarer Fakt. Ein Kinobesuch mit Freundinnen, ein Abend, an dem man um die Häuser zieht, oder ein Konzertbesuch: all das ist soziale Teilhabe, die Kinder und Jugendliche dann schmerzlich missen müssen. Es ist deshalb wichtig, dass die Kindergrundsicherung kommt und bürokratische Hürden überwindet, um so eine Teilhabe zu ermöglichen.

Es ist aber auch wichtig, dass das Bürgergeld kommt und mit einer großen Ungerechtigkeit aufräumt.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Jugendlichen, die einem Minijob nachgehen, wurden bislang ab einem Zuverdienst von 100 Euro im Monat 80 Cent pro Euro auf ihre Bedarfsgemeinschaft angerechnet. Bei Ferienjobs galt pro Jahr – also über alle Ferien hinweg gerechnet – erst ein Freibetrag von 1.200 Euro und dann von 2.400 Euro.

Viele junge Menschen in unserem Land haben zu Recht das Gefühl, für den Leistungsbezug ihrer Eltern bestraft zu werden, denn sie tragen eine finanzielle Verantwortung gegenüber ihrer Familie, die Gleichaltrige nicht schultern müssen. Mit dem Bürgergeld ändert sich das endlich. Der monatliche Freibetrag wird auf 520 Euro erhöht, und der Verdienst aus Ferienjobs wird gänzlich nicht mehr angerechnet. So können Jugendliche im SGB-II-Bezug jetzt endlich das tun, was für andere selbstverständlich ist, nämlich sich selbst einmal etwas leisten oder auf den Führerschein oder die erste eigene Wohnung sparen. Das ist ein großes Stück Freiheit, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es ist durchsichtig, dass Sie uns als Koalition mit dieser Aktuellen Stunde treiben wollen.

(Zuruf von der SPD: Nein, wir wollen die Wahrheit hören!)

Ich kann Ihnen aber jetzt schon sagen: Dieser Versuch wird ins Leere laufen. Denn es ist in dieser Koalition selbstverständlich,

(Weitere Zurufe von der SPD)

was wir auch von Anfang an kommuniziert haben, dass wir es hier im Parlament aushalten, wenn wir bei Vorhaben unterschiedlicher Auffassung sind, und konstruktiv nach der besten Lösung suchen.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Zurufe von der SPD)

Ich bin auf die weitere Debatte und auf die Gespräche, die in Berlin jetzt folgen, gespannt. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Unruhe)

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