Josefine Paul: „Teilhabe und Beteiligung sind zentrale demokratische Rechte – es sind zentrale Kinderrechte“

Zum Antrag der SPD-Fraktion zu Situation von Kindern, Jugendlichen und Familien in der Pandemie

Portrait Josefine Paul

Josefine Paul (GRÜNE): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Natürlich sind wir uns über viele Dinge auch einig. Es gibt viele Dinge, die wir als Oppositionsfraktion mitgetragen haben, mit denen die Kitas unterstützt worden sind, die Jugendverbandsarbeit unterstützt worden ist und vieles mehr.

Allerdings kann ich zunehmend weniger verstehen, dass, wann immer wir wirklich konstruktiv miteinander hier im Parlament diskutieren wollen, welche weiteren Maßnahmen es braucht, unsere Arbeit stets diskreditiert wird, indem gesagt wird: Was macht die Opposition denn da? Sie hätten ja wirklich auch einmal etwas einbringen können.

Aber wann immer wir etwas einbringen, wird es von Ihnen hier plattgeredet.

(Beifall von der SPD und Stefan Engstfeld [GRÜNE])

Ich muss auch sagen: Das, was Sie hier vorgetragen haben, liebe Kollegen von CDU und FDP, war ganz dünne Suppe. Das haben Sie uns gestern alles schon einmal vorgetragen. Es ist ja auch nicht falsch, was Sie gestern alles vorgetragen haben.

(Zuruf von Jens Kamieth [CDU])

– Ja, Herr Kollege Kamieth, Sie nicht. Das war der Kollege Tigges schräg hinter Ihnen. Aber im Grunde genommen waren es die gleichen Wortbausteine, die da vorgetragen worden sind.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Zuruf von Jens Kamieth [CDU])

Das finde ich einfach enttäuschend. Lieber Kollege Kamieth, das, was Sie hier vorgetragen haben, waren in allererster Linie Stanzen. Das war wenig Kreatives.

Und dann wussten Sie noch nicht einmal, was im Programm der Bundesbildungsministerin steht.

(Beifall von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE] und Regina Kopp-Herr [SPD])

Anders ist Ihre Antwort auf die Frage doch nicht zu verstehen.

Das ärgert mich schon. Das ist aus meiner Sicht kein konstruktiver Umgang miteinander, kein konstruktives gemeinsames Ringen.

Denn das, was hier in den Anträgen beschrieben worden ist, ist doch nicht völlig Wolkenkuckucksheim. Es ist das, was uns und auch Ihnen zurückgemeldet wird – aus der Jugendarbeit, von Kindern und Jugendlichen, aus der Jugendverbandsarbeit. Viele von uns haben sicherlich auch die Aktion „Stimme für die Jugend“ wahrgenommen, die der Arbeitskreis G5 vor Kurzem auf den Weg gebracht hat.

Gerade fand auch eine kreative Onlinedemo dazu statt. Bei dieser Demo gab es ganz viele beeindruckende Botschaften von jungen Menschen, die deutlich gemacht haben, wie sie sich in dieser Pandemie fühlen und was sie brauchen – nämlich einerseits, dass wir ihnen zuhören, und andererseits, dass wir darum bemüht sind, ihnen Freiräume zurückzugeben. Es geht eben nicht nur um die Interessen von Erwachsenen, sondern auch ganz klar darum, junge Menschen als das zu begreifen, was sie jenseits von Schule sind, nämlich Menschen, die Entwicklungsräume brauchen, die Freiräume brauchen und die vor allem auch gehört werden wollen.

Die JuCo-Studie ist vorhin schon angesprochen worden. 65 % der in dieser Studie befragten Jugendlichen gaben an, dass sie sich im zweiten Lockdown nicht ernst genommen, nicht gehört und mit ihren Sorgen nicht gesehen gefühlt haben.

(Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

Das ist umso bedauerlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass die Politik als Konsequenz aus dem Frühjahr gesagt hat: Jetzt nehmen wir Kinder und Jugendliche mehr in den Blick; jetzt haben Kinder und Jugendliche Priorität für politisches Handeln.

Trotzdem hat sich der Wert von einem Lockdown zum nächsten Lockdown noch einmal um 20 % verschlechtert. Im Frühjahr haben 45 % der Jugendlichen gesagt, dass sie sich nicht gesehen fühlen. Im zweiten Lockdown waren es 65 % der Kinder und Jugendlichen.

Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass wir gemeinsam in der Verantwortung sind, mehr für junge Menschen zu tun und mehr dafür zu tun, sie ernst zu nehmen, aber auch ihre Rückmeldungen zu hören; denn da gibt es ganz viel Kreativität.

Noch mehr erschüttert mich eine zweite Zahl aus dieser Studie. 58 % gehen nämlich davon aus, dass Politik – wir als Politikerinnen und Politiker – junge Menschen nicht im Blick hat, dass Politik sich nicht an ihnen orientiert und dass sie der Politik nicht wichtig sind. Sie gehen zu einem genauso großen Anteil davon aus, dass sie ihre Ideen in die Politik nicht einbringen können und es gar nicht erst zu versuchen brauchen.

Das ist ein ganz schlechtes Signal. Das müssen wir ernst nehmen. Das muss sich ändern. Teilhabe und Beteiligung sind zentrale demokratische Rechte. Es sind zentrale Kinderrechte. Vertrauen ist eine Grundlage der Pandemiebekämpfung.

Das heißt natürlich auch, dass wir junge Menschen verlieren, dass wir das Vertrauen junger Menschen verlieren und dass junge Menschen das Vertrauen in Politik verlieren, wenn Politik nicht andersherum auch jungen Menschen vertraut und auf sie zugeht, sehr geehrte Damen und Herren.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Helmut Seifen [AfD]: Das sind Argumente von gestern!)

Kinder und Jugendliche sind Expertinnen und Experten in eigener Sache. Sie wollen ihr Leben und ihre Lebenswelt gestalten. Das gilt selbstverständlich auch in der Pandemie.

Ich habe es gerade schon erwähnt: Es gab viele beeindruckende Beiträge gerade bei dieser Onlinedemonstration – zum einen zur Lebenssituation, zum anderen aber auch dazu, was es jetzt braucht, um die Lebenssituation zu verbessern und um wieder Dinge zu ermöglichen. Das zeigt, wie verantwortungsbewusst junge Menschen mit dieser Situation umgehen und wie verantwortungsbewusst sie sich daran beteiligen wollen, gemeinsam hier etwas zu gestalten.

Kindern und Jugendlichen Priorität einzuräumen, heißt, zu versuchen, diese Freiräume und diese Peerkontakte wieder zu ermöglichen. Das ist wichtig für ein gesundes Aufwachsen und eine gute Entwicklung. Das gilt selbstverständlich auch in der Pandemie.

In diesem Zusammenhang sind Ansätze wie das Ferienprogramm „Extra-Zeit zum Lernen“ ein erster Schritt – natürlich. Diesmal muss das Programm allerdings auch ankommen.

Hier wurde das Sommerferien-Programm sehr gelobt. Wenn von 70 eingestellten Millionen nicht einmal 5 Millionen Euro abgerufen werden, ist das, finde ich, kein besonders erfolgreiches Programm.

(Beifall von der SPD und Wibke Brems [GRÜNE])

Wenn dies aber genutzt wird, um daraus zu lernen, um Kreativität zu fördern und bessere Schritte zu gehen, dann sind wir doch dabei. Aber auch hier geht es darum, dass auch das gemeinsam und aufeinander abgestimmt erfolgen muss. Die Akteure, die aus der Jugendarbeit bereits unterwegs und im guten Gespräch mit dem Familienminister sind, müssen genauso an ein Programm im Bildungsministerium angedockt sein.

Das muss gewährleistet sein, sonst geht es eben leider schief. Ich glaube, wir wollen alle miteinander nicht, dass das schiefgeht.

(Beifall von Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD])

Noch einen Satz zu den außerschulischen Lernorten – da bin ich ganz bei den Kolleginnen und Kollegen des SPD-Fraktion –: Außerschulische Lernorte sind schon in nichtpandemischen Zeiten absolut wichtig für ganzheitliche pädagogische Prozesse. In diesem Fall – das schreiben Sie ja in Ihrem Antrag – sind außerschulische Lernorte Teil der Lösung und nicht Teil des Problems.

Umso unverständlicher ist es, dass sie als solche Lösungsansätze nicht aufgenommen werden, dass sie offensichtlich nicht einmal mitgedacht werden. Wenn es darum geht, Perspektiven und Entwicklungsräume für junge Menschen zu schaffen, und das entzerrt, dann brauchen wir solche Räume, in denen übrigens das pädagogische Personal vorhanden ist. Denken Sie beispielsweise an Gedenkstätten etc. Das pädagogische Personal ist da. Es kann für solche Gruppenangebote etc. eingesetzt werden. Also nutzen Sie das! Da bin ich ganz bei der SPD. Nutzen Sie das, und heben Sie die Schließungen auf. Wir brauchen diese Einrichtungen, damit wir Bildungsprozesse auch in der Pandemie gut fortführen können.

(Beifall von Regina Kopp-Herr [SPD] und Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD])

Wir brauchen jetzt endlich mehr Engagement für Kinder und Jugendliche. Das ist ein klarer Auftrag für uns, weil uns Kinder und Jugendliche zurückmelden, dass sie sich von uns nicht gesehen fühlen, dass sie das Gefühl haben, ihre Bedürfnisse seien uns nicht genügend wert. Ich glaube, wir müssen jetzt mehr tun, und zwar nicht immer im Klein-Klein und gegeneinander.

Ich will aber noch einmal auf meinen Appell vom Anfang zurückkommen. Dazu gehört auch, dass man nicht jeden Vorschlag der Opposition als Majestätsbeleidigung auffasst und sagt: Da habt ihr nicht richtig zugehört, das machen wir doch schon alles.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: So ist es!)

Wir werden nur gemeinsam durch diese Pandemie kommen. Die Leute werden uns nur dann weiterhin vertrauen, bzw. wir gewinnen nur dann verloren gegangenes Vertrauen zurück, wenn wir das Klein-Klein und das ganz kleine Karo überwinden und wirklich gemeinsam – in diesem Fall für Kinder und Jugendliche – vorangehen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)