Josefine Paul: „Sie versuchen einmal mehr, die deutsche Geschichte zu instrumentalisieren, sie umzudeuten“

Zum Antrag der "AfD"-Fraktion zum 17. Juni 1953

Portrait Josefine Paul

Josefine Paul (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der 17. Juni 1953 markiert ein besonderes Datum der deutschen, aber auch der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Aufstände und Proteste, die von Berlin aus die ganze DDR erfassten, waren der erste Aufstand im sogenannten Ostblock oder im Einflussbereich der Sowjetunion. Sie waren auch eine der wenigen demokratischen Massenbewegungen in Deutschland.

Die deutsche Teilung – das muss man an diesem Tag doch noch einmal sehr deutlich in die Richtung derjenigen, die hier rechts im Saal sitzen, sagen – war die Konsequenz aus der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, in die Deutschland Europa und die Welt gestürzt hatte.

(Beifall von Verena Schäffer [GRÜNE], Sebastian Watermeier [SPD] und Angela Freimuth [FDP])

Der Eiserne Vorhang und die Teilung Europas manifestierten die ideologische Blockbildung, die den größten Teil der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmte.

Wenn man die Einlassungen der AfD hier heute hört – sowohl in Ihrer Eingangsrede, Herr Seifen, als auch anschließend in Ihrer Kurzintervention –, dann zeigt sich doch sehr deutlich – Frau Freimuth hat auch gerade noch einmal auf den Titel des Antrags hingewiesen –: Es geht Ihnen mit diesem Antrag nicht um Erinnerung. Es geht Ihnen auch nicht um die ehrliche Würdigung des Kampfes für Freiheit. Es geht Ihnen auch nicht um den Ausblick darauf, welche Lehren eine moderne Gesellschaft daraus ziehen kann und wie dankbar wir dafür sein können, heute in dieser Gesellschaft mit Freiheit, Demokratie und Vielfalt leben zu dürfen. Darum geht es Ihnen ganz offensichtlich mit diesem Antrag nicht.

Der Kollege Optendrenk hat bereits ausgeführt, was im Grunde genommen die historische Grundlage auf dem Weg zum 17. Juni 1953 ist, nämlich die zunehmende Repression und durch die II. Parteikonferenz der SED im Jahre 1952 und den damit verbundenen Auftrag zum zügigen Aufbau des Sozialismus eine zunehmende Umwälzung des Staates – nicht nur hin zu einem Zentralstaat durch die Abschaffung der Länder, sondern auch durch die Enteignung, durch die Beschneidung der christlichen Kirchen, durch die Gründung Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften. Über all diese Dinge sollte die Überlegenheit der sozialistischen Ordnung gegenüber dem Westen Deutschlands zum Ausdruck gebracht werden.

Was sich allerdings zeigte, war weniger eine ideologische oder produktive Überlegenheit als vielmehr die Unzufriedenheit der Bevölkerung über diese massiven politischen Eingriffe im Sinne von Enteignung und Kollektivierung, im Sinne der Repression.

Dies führte – darauf hat Kollegin Freimuth gerade schon hingewiesen – zu einer Massenflucht, zu einer Abstimmung auch mit den Füßen, weil die Lebensbedingungen sich nicht zuletzt zu Beginn der 50er-Jahre massiv verschlechterten, worauf diese Menschen dann in ihrem Drang nach Freiheit, aber auch schlicht besseren Lebensbedingungen hinweisen wollten. Dafür sind sie auf die Straße gegangen und haben sich auch einem massiv repressiven Regime entgegengestellt.

Kulminationspunkt war nicht zuletzt die Normerhöhung für die Volkseigenen Betriebe. Als Reaktion riefen Arbeiter zu Demonstrationen und zum Generalstreik auf.

In der Tat hat sich das binnen kürzester Zeit zu einer Massenbewegung in der gesamten DDR ausgeweitet. In 700 Städten und Gemeinden fanden Demonstrationen und Streiks statt. Mehr als eine Million Menschen nahmen an diesen Demonstrationen und an diesem Aufstand teil.

Die Protestierenden in Stadt und Land forderten dabei nicht nur eine Rücknahme der Normerhöhung und Preissenkungen zur allgemeinen Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Proteste richteten sich auch auf freie Wahlen, auf Demokratisierung, auf Freiheit, auf einen Rücktritt der nicht demokratisch legitimierten SED-Regierung und auf Freilassung politischer Gefangener.

Wie das Regime darauf reagiert hat, wissen wir alle; das ist heute auch schon vorgetragen worden. Brutal wurde der Aufstand für Freiheit und Selbstbestimmung niedergeschlagen. Tausende wurden verhaftet. Tausende mussten lange Strafen verbüßen.

Die Rezeption, die Interpretation und der Umgang mit dem 17. Juni hätten in Ost und West kaum unterschiedlicher sein können. Während die DDR-Führung die Aufstände zu einem konterrevolutionären Putsch umzudeuten versuchte, war es in der bundesdeutschen Erinnerungskultur quasi ein identitätsstiftendes Merkmal. Der 17. Juni wurde in der Bundesrepublik zum Feiertag und zum Tag der Deutschen Einheit erklärt. Mangels realer Handlungsoptionen erlangte der 17. Juni eine hohe symbolische Bedeutung in Westdeutschland.

Allerdings: Eine lebendige Erinnerungskultur braucht auch einen Rahmen, der Erfahrungen sichtbar macht, der Geschichten hörbar macht und der eigene Auseinandersetzungen möglich macht. Teilnehmende am Aufstand des 17. Juni, die die DDR später verlassen konnten, mahnten an, dass ihre Geschichten und ihre Erfahrungen in einer immer mehr erstarrenden bundesdeutschen Erinnerungskultur immer stärker zurückgedrängt wurden und dass das Symbolische den Vorrang vor dem hatte, was eigentlich in einer Erinnerungskultur an Auseinandersetzung möglich sein müsste.

Darum geht es doch. Es geht nicht rein um singuläre Gedenkveranstaltungen, sondern um eine politische und historische Bildung, um eine Erinnerungskultur, die eine persönliche Auseinandersetzung möglich macht,

(Beifall von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

die die Brücke ins Heute schlägt, die einen Diskurs möglich macht, die hinterfragt, die Diskursmöglichkeiten eröffnet, auch und gerade zu einem Diskurs über die unterschiedlichen Erfahrungen in Ost und West, die bis heute nachwirken. Erfahrung bezieht sich meiner Meinung nach dabei nicht nur auf das konkret Erlebte, sondern auch auf die Rezeption und den historischen, politischen und gesellschaftlichen Umgang damit.

Hier eröffnet sich doch noch vieles mehr. Wir haben doch noch viel mehr Möglichkeiten in der Auseinandersetzung mit der deutschen, vor allem mit der deutsch-deutschen Geschichte und der deutschen Nachwendegeschichte. Denn was die Beteiligten am Aufstand des 17. Juni für die Erinnerungskultur der Bonner Republik beschrieben, spiegelt bis heute einen Teil ostdeutscher Erfahrungen wider. Die eigene Transformationserfahrung wird bis heute zu häufig eben nicht als gesamtdeutsche Expertise wahrgenommen.

Über all diese Dinge hätte man in dem Antrag sprechen können. Über all diese Dinge hätte man diskutieren können, um auch einen Blick nach vorne zu richten. All das wollte man nicht.

Unbestritten ist: Das Gedenken an den 17. Juni 1953, an den Kampf für Freiheit und Demokratie, für Selbstbestimmung und für gute Lebensbedingungen und auch an die Opfer dieses Kampfes ist ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte.

Was dem nicht gerecht wird, ist die nationale Rahmung, die nicht zuletzt aus der Überschrift, aber auch aus dem gesamten subkutanen Duktus des AfD-Antrags quasi herausspringt. Das wird dem nicht gerecht.

Mit Ihrer Rede, Herr Seifen, haben Sie noch einmal sehr deutlich gemacht, was Ihr eigentliches Anliegen ist. Sie versuchen einmal mehr, die deutsche Geschichte zu instrumentalisieren, sie umzudeuten.

(Sven Werner Tritschler [AfD]: Das würde den Grünen ja nie einfallen!)

Das, sehr geehrte Damen und Herren, ist glücklicherweise nicht unsere Auffassung von Erinnerungskultur. Diese Auffassung werden wir uns in diesem Haus ganz sicher auch niemals zu eigen machen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und Angela Freimuth [FDP])