Josefine Paul: „Sexualisierte Gewalt ist und darf kein Kavaliersdelikt sein“

Antrag von SPD und GRÜNEN gegen sexualisierte Gewalt

Portrait Josefine Paul

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Josefine Paul (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal möchte ich anmerken, dass ich es ein bisschen schade finde, dass ein derart wichtiger politischer Punkt doch so wenig Publikum und leider auch wenig mediales Interesse hat.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)
Denn wenn wir, wie ich gerade höre, die Opferperspektive mehr in den Blick nehmen wollen, wäre es schön, wenn das auch in der Diskussion mehr Widerhall fände und auch durch mehr Anwesenheit goutiert würde.
Aber zum Thema: Die Ereignisse der Silvesternacht in Köln und anderen Städten haben uns zutiefst schockiert. In Düsseldorf, in Bielefeld, in Hamburg, in Stuttgart und auch in anderen Städten Nordrhein-Westfalens und Deutschlands ist es zu Übergriffen gekommen, die die Menschen verunsichert haben und ihr Sicherheitsgefühl erschüttert haben.
In dieser Nacht sind wir nicht in der Lage gewesen, insbesondere Frauen vor sexualisierter Gewalt und vor Übergriffen zu schützen. Öffentliche Räume, wie es Bahnhofsvorplätze und andere belebte Plätze nun einmal sind, sind in dieser Silvesternacht zu Angsträumen geworden. Das dürfen und das werden wir in Zukunft nicht zulassen.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)
Die massenhaften Angriffe waren widerlich. Sie dürfen sich nicht wiederholen. Die Täter müssen verfolgt und bestraft werden. Das sind wir nicht zuletzt den Opfern schuldig. Im Übrigen ist das auch keine Frage von Herkunft; denn Straftäter sind Straftäter.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Trotzdem müssen die Hintergründe der Taten und die Tätergruppen genau analysiert werden. Daher ist es wichtig, dass die Frage der sexualisierten Gewalt auch ein zentraler Bestandteil der Arbeit des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses sein wird, den wir gerade gemeinsam eingesetzt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, laut Bericht des Innenministeriums vom 21. Januar 2016 sind allein in Köln 821 Straftaten angezeigt worden. 359 Anzeigen davon erfolgten wegen Vergehen gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Die große Anzahl der Anzeigen zeigt ein bisher unvorstellbares Ausmaß. Auch in anderen Städten – ich habe es gerade erwähnt – ist es zu Übergriffen gekommen.
Offensichtlich ist das öffentliche Interesse maßgeblich dafür gewesen, dass Frauen endlich den Mut gefasst haben, sexuelle Übergriffe gegen sie auch zur Anzeige zu bringen. Das ist wichtig; denn es ist wichtig, dass Frauen diesen Mut haben und auch das Vertrauen haben, dass Übergriffe, die gegen sie gerichtet passieren, auch ernst genommen werden.
Die bundesweiten Ereignisse in und nach der Neujahrsnacht haben sexualisierte Gewalt ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Das ist wichtig; denn üblicherweise ist sexualisierte Gewalt leider eine Straftat mit einem sehr großen Dunkelfeld.
Die meisten Taten kommen nicht einmal zur Anzeige – aus Angst, aus Scham, aus dem Gefühl heraus, dass man eventuell nicht ernst genommen wird oder dass man gar noch selbst beschuldigt wird: „Sie hat es doch auch gewollt“ oder „Was sieht sie denn so aus?“ und „Sie ist doch selber schuld“, oder weil die Frauen – und das finde ich das Schlimmste – selber das Gefühl haben, es sei nicht schwerwiegend genug oder es sei noch nicht einmal strafwürdig, und das, obwohl sie darunter oftmals für den Rest ihres Lebens nachhaltig leiden.
Doch steht fest: Sexualisierte Gewalt ist und darf kein Kavaliersdelikt sein. Leider ist es auch kein neues Phänomen. Die aktuell aufgeheizte Debatte darf nicht den Blick darauf verstellen, dass sexualisierte Gewalt in Deutschland ein alltägliches Phänomen ist, das keine Schicht und keine Herkunft kennt.
In den meisten Fällen ist es eine Tat im sozialen Nahfeld. Jede vierte Frau in Deutschland wird im Laufe ihres Lebens Opfer sexualisierter physischer und/oder psychischer Gewalt, und zwar, weil sie eine Frau ist.
Die Polizeiliche Kriminalstatistik in Nordrhein-Westfalen weist für das Jahr 2014 10.138 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung aus sowie allein 1.814 Vergewaltigungen und Fälle besonders schwerer sexueller Nötigung. 96,5 % der Opfer einer Vergewaltigung sind Frauen. Drei Viertel kannten den Tatverdächtigen zumindest flüchtig.
Diese Zahlen beschreiben nur das sogenannte Hellfeld. Eine aktuell veröffentlichte Dunkelfeldstudie des LKA Niedersachsen macht in erschreckendem Ausmaß deutlich, wie klein der Anteil der tatsächlich angezeigten Straftaten ist; denn laut dieser Studie werden nur knapp 6 % aller Sexualstraftaten angezeigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Polizei ist in der Silvesternacht nicht in der Lage gewesen, die betroffenen Frauen vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Diese Vorfälle haben der Debatte über die Verschärfung des Sexualstrafrechts zu Recht eine neue Dynamik verliehen; denn die aktuelle Gesetzgebung ist nicht in der Lage, Frauen ausnahmslos vor sexualisierter Gewalt zu schützen.
Frauen, die in dieser Nacht angegrapscht wurden, können sich nicht auf den Schutz des Rechtsstaates verlassen; denn Grapschen ist bislang kein Straftatbestand. Das deutsche Recht suggeriert durch diese Schutzlücke, ein bisschen Grapschen sei schon okay. Es unterstützt damit eine sexistische Kultur in dieser Gesellschaft.
(Beifall von den GRÜNEN)
Frauen müssen aber durch das Recht in ihrer sexuellen Selbstbestimmung geschützt werden, ausnahmslos und voraussetzungslos. Nein heißt Nein. Das muss endlich auch in unserem Strafrecht gelten.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Die jetzt von Bundesjustizminister Maas vorgelegte Reform ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ich finde es beschämend, dass es erst Hunderte Opfer in der Silvesternacht geben musste, bis die Union ihre Blockadehaltung zu diesem Thema aufgegeben hat.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Ich appelliere aber jetzt trotzdem sehr deutlich an die Bundesregierung: Es ist Zeit! Sexuelle Selbstbestimmung ist nicht relativierbar. Sie ist auch nicht verhandelbar. Es gilt, sie jetzt endlich voraussetzungslos und ausnahmslos zu schützen. Deswegen muss sich im Strafrecht niederschlagen: Nein heißt Nein. – Nicht mehr und nicht weniger erwarten wir jetzt vom Bundesgesetzgeber.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gäbe noch viel zu diesem Thema zu sagen. Sexismus ist der Nährboden für sexualisierte Gewalt. Dieser Sexismus ist ganz sicher nicht aus Nordafrika in unsere Gesellschaft eingewandert.
Wir Frauen verwahren uns gegen die Instrumentalisierung unserer sexuellen Selbstbestimmung und generell unserer Selbstbestimmung. Wir wollen auch nicht von irgendwelchen marodierenden Männerhorden und Bürgerwehren beschützt werden. Wir wollen eine offene und ehrliche Debatte über den alltäglichen Sexismus in unserer Gesellschaft. Wir fordern ein Sexualstrafrecht, das unsere sexuelle Selbstbestimmung schützt – ausnahmslos.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

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